Die Berliner Grafikerin Tita wird darüber informiert, dass sie Miterbin des Familienanwesens in Sizilien ist. In Ragusa angekommen, erfährt sie, dass ihre Verwandten das Anwesen verkaufen möchten. Obwohl Tita seit Jahrzehnten nicht mehr in der ehemaligen Heimat ihres verstorbenen Vaters war, stellt sich bei ihr sofort ein Widerwillen ein, der sie dazu veranlasst, das baufällige Haus und die dazugehörigen Ländereien zu kaufen. Alles an dem Landgut erinnert sie an ihren Vater. Gianni war Anfang Zwanzig, als er seine Heimat und seine Familie verließ, um in Deutschland sein Glück zu finden. Das Glück fand er. Doch die Sehnsucht nach Sizilien verlor er nie.
Nostalgia Siciliana ist das Ergebnis zweier paralleler Leben, Giannis und seiner Tochter Tita. Dabei springen die Lesenden zusammen mit den Kapiteln zwischen der Vergangenheit ab den 1940er Jahren und der Gegenwart, die ihren Anfang in Berlin nimmt. Auf diese Weise wird zum einen die Biografie des Sizilianers skizziert, als auch die emotionale Reise in die Vergangenheit für die Hinterbliebene. Angelehnt ist die Geschichte an den Vater der Autorin, Giovanni di Stefano, der vor der Priesterweihe nach Deutschland geflohen ist, wo er sich später als Restaurantbesitzer und Erfinder der Tiefkühlpizza ein Leben in der kühlen Ferne aufbaut.
Als Sohn von Landbauern wächst Gianni in einfachen Verhältnissen inmitten der Trockenheit Siziliens auf. Schon seine Tanten drängen ihn dazu, Priester zu werden. Nur widerwillig gibt er diesem Drängen nach. Doch Gianni will etwas anderes als ein Leben als Geistlicher. Daher wandert er heimlich nach Deutschland aus. Als sogenannter Gastarbeiter muss er sich nicht nur gegen die Verschlossenheit der Deutschen behaupten. Auch sehnt er sich schnell nach seiner Heimat und seiner Familie in Ragusa.
Patrizia di Stefano beschreibt diese Biografie so emotional, dass Melancholie aufkommt beim Lesen und Begleiten des Italieners Gianni. Es wirkt fast so, als vereinsamte man anfangs mit dem Protagonisten, als er fremd ist in einem Land, von dem viel geschwärmt wird, doch vieles auch mehr Schein als Sein ist. Vor allem äußert die Autorin die gerechtfertigte Kritik an Deutschland, dass sich Einwohner anderer Nationen bemächtigte, um sie um ihre Arbeitskraft auszunutzen.
Im Gegensatz dazu bleibt die fiktive Tochter Tita weitestgehend gesichtslos. Die Leser*innen erfahren so gut wie nichts über die Frau, die innerhalb weniger Tage ein Haus in Sizilien kauft, um künftig darin zu leben. Sie wissen lediglich, dass sie als Grafikerin arbeitet. Warum die Figur spontan ihr Leben in Berlin aufgibt, bleibt im Unklaren. Auch über Beziehungen wird nicht informiert. Stattdessen nimmt die Protagonistin das leider klischeehafte Gesicht einer Liebesroman-Heldin an. Sie ist lieb. Sie ist aufgeschlossen. Sie hat keine Ecken und Kanten. Und sie findet direkt Anschluss an die Bevölkerung Ragusas, die sie innerhalb weniger Tage zu ihren Freunden zählt. Auch dieser Umstand erscheint zu einfach. Denn kaum ist Tita im Land ihrer Vorfahr*innen angekommen, wird sie selbst von Fremden herzlichst empfangen. Täglich treffen sie sich. Sie laden sich gegenseitig ein. Und als wäre das nicht bereits genug, erhält sie größte Hilfe, ohne dafür zahlen zu müssen. Die Welt, die die Autorin dort beschreibt, wirkt zwar einladend, doch aufgrund von zu viel Friede-Freude-Eierkuchen auch unrealistisch. Hier hätte eine vorbelastete Frau, die vielleicht aus einer schwierigen Situation in Berlin das Anwesen kauft und dabei auf Probleme stößt, mehr Verständnis und Empathie von Seiten der Lesenden empfangen.
Die Geschichte ist schön beschrieben. Im wahrsten Sinne. Die Landschaft Siziliens wird mit allen Sinnen wahrgenommen und wiedergegeben. Kurz: Der Roman macht Appetit auf das Leben im südlichen Italien. Egal ob auf das Essen, die Bäume, die brennende Sonne, der Geruch von Regen auf trockener Erde – alles erscheint wie ein Genuss.
Die Sprache der Autorin ist einfach, jedoch füttert sie ihre Erzählung mit etlichen italienischen Worten und Sätzen. Es gibt nicht eine Seite ohne italienische Aussagen. Einerseits sorgt dieser Umstand für mehr Authentizität. Aufgrund der Ästhetik der Sprache untermauert diese Entscheidung für die Herkunftssprache des Vaters den Genuss der sizilianischen Heimat. Andererseits kann es stark den Lesefluss behindern. Wer keine Ahnung vom Italienischen oder keine Lust auf eine ihm/ihr unbekannte Sprache hat, fühlt sich schnell von den zahlreichen Vokabeln gestört. Hinzu kommt, dass die Bedeutung des Gesagten im Kontext verstanden werden muss, da eine Übersetzung ausbleibt.
Fazit
Nostalgia Sicialiana besteht aus zwei Geschichten, man möchte fast sogar sagen: aus zwei Romanen. Da ist der wunderbar beschriebene emotionale Lebensweg des Gianni, der so nostalgisch anmutet, dass eine Sehnsucht entsteht, die ein Lächeln auf das Gesicht der Leser*innen zaubert. Und gleichzeitig ist da der Mikroausschnitt aus dem Leben der Tita, der genauso überschönt und charakterlos gezeigt wird wie die Figur selbst. Vielleicht aber ist es genau dieser Gegensatz, der dieses Buch zu einem Leseerlebnis macht.
- Autorin: Patrizia di Stefano
- Titel: Nostalgia Siciliana
- Verlag: Aufbau
- Umfang: 384 Seiten
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Erschienen: 14. März 2024
- ISBN: 978-3-351-04217-2
- Produktseite
Wertung: 11/15 dpt