Fett sein ist eine moralische Verfehlung.
Wäre es nicht so, würden wir nicht mit fetten Menschen umgehen, wie wir es tun. Dann würden wir fette Menschen nicht auslachen, mobben und ausgrenzen, ständig bewerten, Fettwerden als Drohung verwenden und Fettsein als persönliches Scheitern betrachten, die man mit genug Willensstärke oder Misshandlung beheben kann.
Weil Fettsein ein moralisches Problem ist, darf man sich über die persönlichen Leiden Betroffener lustig machen, und Betroffene schlecht behandeln – schließlich wollen sie es doch so! Fettsein wird dabei nicht als das psychologische und medizinische Problem angesehen, das es ist.
Aber fett ist niemand aus Spaß und der gesellschaftliche Umgang mit Fetten ist ein Armutszeugnis.
“Scham ist das Haus aus Fleisch in dem ich wohne” von Nils Matzka macht deutlich, wie gefährlich unsere gesellschaftliche Fettfeindlichkeit ist. Matzka erzählt mit viel Verletzlichkeit und Intimität von seinen eigenen Erfahrungen als fetter Mensch, welche Rolle zwischenmenschliche Beziehungen dabei gespielt haben, wie seine Psyche litt und wie schwer es ist, mit diesem sichtbaren unsichtbaren psychischen Leiden in einer Gesellschaft zu leben, die einen verachtet.
Chronologisch erzählt Matzke von seiner Kindheit, Adoleszenz und Erwachsenwerden, die durch die Gewalt seiner Mutter geprägt wurde. Die daraus resultierende Fettleibigkeit und Einsamkeit ist dabei ein roter Faden, der sich durch sein bisheriges Leben zieht. Er erzählt von Momenten, in denen er als Kind und Jugendlicher dringend Unterstützung brauchte, aber keine Hilfe bekam. Stattdessen gab es viele ungebetene (und nicht immer gut gemeinte oder gut gemachte) Ratschläge, Diätpläne, die Anorexie verursachten und Scham, die sein Sozialleben massiv einengte. Dabei veranschaulicht er, wie gefährlich diese Einsamkeit gerade für Jungs und Männer sein kann: Neben Suizidgedanken und Depressionen macht gesellschaftliche Ausgrenzung auch empfänglich für menschenverachtende Ideologien, in denen Zugehörigkeit oder zumindest Rechtfertigungen für die beschissene Situation geboten wird, in der man sich befindet. Dazu gehört auch die frauenverachtende Incel-Bewegung, die sogar Massenmörder hervorgebracht und das Internet zu einem frauen- (und queer-) feindlichen Ort gemacht hat.
“Scham ist das Haus aus Fleisch in dem ich wohne” ist ein Theaterstück in Buchform und schafft es auf unglaublich gute Art und Weise, die gleiche Intimität und Vulnerabilität von Einpersonenstücken zu vermitteln. Seine bildliche Sprache, die stellenweise stattfindende Abstraktion von seinem Körper, dessen Handlungen er wie ein fremdes Objekt beschrieb, Referenzen zu Popculture (insbesondere Anime und Cartoons) und den stellenweise beibehaltenen Manuskriptkommentare seiner Freunde, die das Geschrieben persönlicher macht, ziehen einem beim Lesen in den Bann.
Oft hatte ich bei thematisch ähnlichen Büchern das Gefühl, ein abstraktes und kompliziertes Stück Papier zu lesen, in dem versucht wird, das eigene Erleben zu intellektualisieren und sich dadurch davon zu distanzieren. Schließlich liegt das Geschehene und Belastende in der Vergangenheit und man ist spurlos davon befreit. Das Buch selbst ist nicht weniger intellektuell (so oft wie “Konstruktion” als Begriff verwendet wurde), aber Matzka hat mit dem offenen Umgang mit seiner Geschichte, der klaren Benennung von Gedanken und Konflikten, beibehaltenen und ergänzten Fußnoten und Kommentaren etwas veröffentlicht, dass sich kaum von einem Tagebuch unterscheidet. Und beim Lesen genauso reinhaut.
Das hat für mich das Buch stellenweise richtig schwer gemacht zu lesen. Zum einen liegt es daran, dass ich selbst unter Essstörungen leide – als Teenager war ich magersüchtig und jetzt leide ich unter Binge Eating Disorder. Zum anderen hat es mir weh getan, mit dieser Intensität mitanzusehen, welche Auswirkungen die strukturelle Diskriminierung gegen Fette hat. Und wie (noch immer) Betroffenen selbst Schuld gegeben und Hilfe mit einer absurden, moralisch gerechtfertigten Selbstgerechtigkeit verweigert wird. Dazu gehören auch lebensgefährliche Handlungsabläufe innerhalb der Medizin.
“Scham ist das Haus aus Fleisch in dem ich lebe” ist ein Buch, das einem unter die Haut geht. Es ist intensiv, intim und zieht einen beim Lesen in den Bann. Mutig und tief persönlich teilt Nils Matzka seine Erfahrungen, ohne eine künstliche Distanz zur*m Lesenden*m oder seinen Buchinhalten zu schaffen. Der Schreibstil kann aber für Leute, die nicht (gern) ins Theater gehen, anstrengend und stellenweise schwer nachvollziehbar sein. Ich empfehle das Buch allen, die nicht von Intimität abgeschreckt werden und sich auf persönliche Geschichten einlassen können.
- Autor: Nils Matzka
- Titel: Scham ist das Haus aus Fleisch in dem ich wohne
- Verlag: Brimborium
- Erschienen: 2023
- Einband: Paperback
- Seiten: 172
- ISBN: 978-3-949615-27-6
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 12/15 dpt