Der Roman aus dem Nachlass des 2014 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez macht es mir nicht leicht.
Márquez gehört zu meinen Lieblingsautoren, sein Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist eines meiner ganz persönlichen Lebensbücher. Außerdem ist der Mann Nobelpreisträger. Und er ist tot und er wollte nicht, dass dieses Buch veröffentlicht wird. Er wollte nicht, dass der Roman gelesen und kritisiert wird und so erscheint jede Kritik daran auf einmal unfair.
Nun habe ich den Roman, der eigentlich mehr Romanfragment ist, gelesen. Habe mich verführen lassen vom nostalgischen Versprechen des Verlages, noch einmal Márquez‘ Meisterschaft zu spüren, den Abschied zu lindern, den man empfindet, wenn man weiß, dass man nie mehr zum ersten Mal einen neuen Text des Lieblingsautoren lesen kann. Und , tja, nun muss ich zugeben, was ich insgeheim auch schon befürchtet hatte: ich bin enttäuscht.
Die Ausgangskonstellation ist vielversprechend: Ein weltberühmter Schriftsteller, selbst ein alter Mann, bereitet einer nicht mehr ganz jungen Frau die Bühne. Er sucht sich eine Protagonistin, wie sie entfernter von ihm selbst überhaupt nicht sein könnte, und inszeniert ihr Innerstes. Und was ist herausgekommen? Ein Text, der durchaus lesbar ist, aber längst nicht die Erwartungshaltung einlöst, die er weckt.
Einmal im Jahr nimmt Ana Magdalena Bach sich eine kurze Auszeit von der Familie, um zum Grab ihrer Mutter zu reisen. Deren letzte Ruhestätte liegt abgelegen auf einer der Küste vorgelagerten Insel, die nur per Fähre zu erreichen ist. Die Reise dauert länger als einen Tag und so übernachtet Ana allein in einem Hotel, um am nächsten Morgen die Heimreise anzutreten. Der Besuch am Grab ist in ihrem Leben ein festes Ritual. Sie nächtigt im immer selben Hotel und nimmt am nächsten Morgen die Fähre nach Hause.
Doch dann, so um ihrem 50. Geburtstag herum, trifft sie einen Mann. Es kommt zum One-Night-Stand mit dem Unbekannten. Dies löst eine Serie von zunächst kleinen Veränderungen in Annas Leben aus. Sie entdeckt sich selbst, ihre Sexualität, ihre Selbstbestimmung, sie stellt ihr Leben, ihre Definition von Glück und ihre Ehe in Frage. Die Geschichte erzählt von einer inneren Befreiung.
Márquez geht ein großes Wagnis ein, denn das Leben einer Frau ist für ihn unbekanntes Terrain. Er stellt sich zahlreichen Klischees und sein Text könnte durch deren Auflösung sogar feministisch werden. Leider behält der männlich geprägte auktoriale Erzähler die Deutungshoheit. Und so verebbt der Stoff für einen großen Roman eher sang- und klanglos.
Außerdem spürt man deutlich, dass der Roman nicht fertig geworden ist. Der Text, der zwischen den Buchdeckeln steckt, ist nicht ganz rund, er ist nicht komplett. Und da hilft es auch nicht, dass er an ganz vielen Stellen glänzt und funkelt. Dass Márquez uns in seinem unverwechselbaren Stil einige schöne Bilder beschert, mit denen er karibischen Zauber verbreitet.
Man kann vermuten, was Márquez vorhatte. Man ahnt, wie großartig dieser Roman hätte werden können, wäre es ihm gelungen, die eigenen Klischees aufzubrechen. Aber all das ist eben leider nicht passiert. Und so enttäuscht der Text, umso mehr, weil er zeigt, wie großartig er hätte werden können.
Nur 120 Seiten zählt der Umfang. Auch das ein Indiz für die fehlende Vollständigkeit.
Im Nachwort berichtet der Herausgeber, wie intensiv Márquez an diesem Buch gearbeitet hatte. Und er begründet, wie es zu der Veröffentlichung kam, die der Autor nachweislich nicht wollte. Die Erben haben sich über den letzten Willen des Nobelpreisträgers hinweg gesetzt.
Und ich, als Leserin, werde jetzt nicht so tun, als sei ich moralisch empört. Denn dann hätte ich die Lektüre verweigern müssen. Ich habe mich beteiligt am Prozess, der zur Veröffentlichung führte.
Aber empfehlen mag ich das Buch dann doch nur bedingt. Für eingefleischte Fans von Gabriel García Márquez ist der Text ein hübsches Puzzlestück zum Gesamtwerk. Etwas, womit man seine Sammlung vervollständigt. Leser:innen, die das Werk des Nobelpreisträgers noch nicht kennen, sind mit den früheren Texten besser beraten.
- Autor: Gabriel García Márquez
- Titel: Wir sehen uns im August
- Originaltitel: En agosto nos vemos
- Übersetzerin: Dagmar Ploetz
- Verlag: Kiepenheuer&Witsch
- Erschienen: März 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 144 Seiten
- ISBN: 978-3462006421
Wertung: 10/15 dpt