Deutsche Nachkriegsgeschichte aus Sicht einer katholischen Bauernfamilie
1943 heiraten die Eltern, der erste Sohn wird 1944 während des Krieges geboren. Die jüngste Tochter kommt 1969 zur Welt, zwei Monate später wird Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt. „Ein Hof und elf Geschwister“ erzählt die Geschichte der Familie Frie, geschrieben von Ewald Frie, Professor für Neuere Geschichte. Im Sommer 2020 reiste der Autor durch Deutschland, besuchte seine zehn Geschwister und führte mit diesen Interviews, in denen sie gleichlautende Fragen beantworteten und auf ihr Leben zurückblickten. Herauskam eine interessante (landwirtschaftliche) Geschichtsstunde zur Deutschen Nachkriegszeit.
In den 1950/60er Jahren sind die Bauern noch wer. Nach Kriegsende geht es ihnen gut, sie leiden keinen Hunger, müssen allerdings auch hart arbeiten. Den Weg in das nahegelegene Dorf Nottuln im Münsterland findet man abseits vom sonntäglichen Kirchgang nicht. Jede Hand wird auf dem Hof gebraucht. 1939 zählt Nottuln 4.700 Einwohner, 1950 sind es über 6.800. Der Krieg und vor allem die Flüchtlinge machen es möglich, wenngleich es viele Flüchtlinge wegen der Arbeit bald weiterzieht in die Städte des Ruhrgebietes.
Facettenreich und kurzweilig erzählt – Deutscher Sachbuchpreis 2023
Wie hat sich die Landwirtschaft in den Jahrzehnten nach Kriegsende entwickelt? Wie bewerten die Geschwister, abhängig von ihren Geburtsjahrzehnten (1940er/50er/60er Jahre) und abhängig vom Geschlecht ihr Leben auf dem Hof? Im Münsterland ist man streng katholisch, doch die Kirche verändert sich in den 1960er Jahren, verliert rasant an Kirchenbesuchern. Zuvor sorgen Flüchtlinge für eine Art Revolution, denn die Hälfte von ihnen sind Protestanten.
Gab es in den 1950er/60er Jahren vor allem Rinderzucht und Tierschauen – 1955 lag der Durchschnittspreis für einen Bullen bei 1.975 Deutsche Mark, als Höchstpreise wurden bis zu 17.000 DM gezahlt –, so verlieren Auktionen gegen Mitte der 1960er Jahre ihren Reiz. Zuchtbullen werden zurückgedrängt, die künstliche Befruchtung startet ihren Siegeszug und Computer liefern wichtige Basisdaten. Maschinen ersetzen Tiere und schwere körperliche Arbeit. Von 1949 bis 1960 verschwindet die Hälfte aller Pferde auf westfälischen Höfen, die Zahl der Traktoren verzehnfacht sich. Gleichzeitig sinkt zwischen 1955 und 1968 die Zahl jener Frauen, die einen Landwirt heiraten wollen von 25 auf unter 10 Prozent.
Galt es zunächst als große Errungenschaft, dass die Frauen und Mädchen nur noch im Haus arbeiten mussten, schließlich wurden sie so von der schweren Feldarbeit freigestellt, so änderte sich auch hier die Situation grundlegend. Zunächst ging die wohlhabende Bauersfrau aufrecht, der Bauer hingegen bedingt durch die harte Arbeit zunehmend gebückt. Allerdings erstarb auch das Türgeschäft mit fahrenden Händlern, die den Frauen ein eigenes Budget ermöglichte, da zunehmend an den Großhandel geliefert wurde. Anfang der 1970er Jahre dann erneut ein anderes Bild, man wollte mehr Freiheit und neue Arbeits- und Lebenswelten entdecken. BAföG machte es möglich.
Der Wandel der Zeit über mehrere Jahrzehnte aus der Sicht von elf Geschwistern, die ihrerseits in verschiedenen Jahrzehnten zur Welt kamen, spiegelt auch die Geschichte der Bundesrepublik in Teilen wieder. So bietet „Ein Hof und elf Geschwister“ ein Sachbuch, welches sich oft zitatweise aus den Interviews bedient und dabei durchgehend informativ wie kurzweilig zu unterhalten weis.
- Autor: Ewald Frie
- Titel: Ein Hof und elf Geschwister
- Verlag: C. H. Beck
- Umfang: 191 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Februar 2023
- ISBN: 978-3-406-79717-0
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Wertung: 13/15 dpt