Richard Hudson lebt den amerikanischen Traum, er ist der amerikanische Traum. Beziehungsweise die bereits intendierte Karikatur. Hudson verkauft mit Erfolg (ganz klassisch) Gebrauchtwagen, es gelingt ihm, ohne Probleme billig erstandene Mängelware an seine Kunden zu verscherbeln, und ihnen das Gefühl zu geben, ein Schnäppchen gemacht zu haben. Er benutzt Menschen auch in seinem Privatleben nach Bedarf und Lust, egal ob Fremde im Vorübergehen oder die minderjährige Stiefschwester Becky. Der Mann mit Charme und mäßigem Geschmack bekommt sie alle. Lediglich seiner umtriebigen Mutter gegenüber benimmt er sich devot und liebevoll.
Als Hudson eine Zweigstelle von “Honest Hal” in Los Angeles eröffnet, beginnt er sich nach erfolgreichem Einstieg zu langweilen. Ein Geschäftsführer und ein paar Handlanger sind schnell gefunden, während Hudson sich einer Idee widmet, die in La-La-land nur allzu nahe liegt. Er möchte einen Film drehen. Dass er kaum Ahnung vom Metier hat, und das Drehbuch nur aus einer vagen Idee besteht, ist für den erfolgsverwöhnten Autohändler kein Hinderungsgrund.
Immerhin ist sein Stiefvater Leo Steinberg ein Ex-Filmproduzent, der noch über Kontakte verfügt. Und tatsächlich funktioniert das Unterfangen, wenn auch unter massivem Aufwand und mit Schwierigkeiten. Darsteller werden von der Straße aufgelesen, die Finanzierung wird zusammengeklöppelt wie das Drehbuch. Derweil geht das Gebrauchtwagengeschäft den Bach runter. Das ist Hudson egal, er verliert sich in der Filmproduktion. Am Ende steht eine Mischung aus Roadmovie und Noir von 63 Minuten Länge. Doch die amtliche Laufzeit eines verwertbaren Films beträgt neunzig Minuten, worauf der Produzent besteht. Material wäre genug vorhanden, aus dem Stock sowieso. Doch Richard ist überzeugt von seiner gut einstündigen Version. Ein absurder Konflikt, der auf eine Katastrophe hinausläuft.
Charles Willeford hat “Filmriss” wie ein Filmprojekt angelegt. Er arbeitet mit Schnitten, Über- und Rückblenden, lässt Richard Hudson zum Publikum sprechen und legt eine Nebenhandlung wie ein Drehbuch an. Als geschickter und eloquenter Stilist, der mit Andeutungen mehr erreicht als andere Autoren mit Ausschmückungen, verweist Willeford damit geschickt und wie beiläufig auf die vergebliche Bemühung der Hauptfigur, sein Leben zu dramatisieren. Zwar entdeckt Richard Hudson seine kreative Ader, aber alle Bemühungen “seinen” Film zu realisieren basieren letztlich auf der gleichen Bedingtheit, die sein Dasein als Autoverkäufer ausmachte: eine Ware nach eigenem Gutdünken zu verkaufen. Als Richard Hudson damit scheitert, reagiert er wie ein verwöhntes Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat: mit Zerstörungswut.
“Filmriss” ist die Schilderung eines Absturzes, in einer Umgebung, in der die Kommerzialität das Maß aller Dinge ist. Beziehungen bestehen aus Kosten- und Nutzenabwägungen, vor allem für Richard, und das ändert sich auch nicht, als er seine kreative Ader entdeckt. Er bemerkt nur schmerzhaft, dass er lediglich ein kleines Rädchen in einer großen Maschinerie ist, dem es nichts nützt, dass er die Mechanismen kennt, nach denen der Maschinenpark funktioniert.
Das Desaster bekommt eine ironische Wendung durch die Filmgeschichte selbst. Denn der Film, den Hudson im Sinn hat, avanciert ein knappes Jahrzehnt nach Entstehung des Romans zum Kultfilm. Ist Hudsons großes Noir-Roadmovie doch ein Vorläufer von Richard C. Sarafians “Vanishing Point” (“Fluchtpunkt San Francisco”), in dem Barry Newman als Fahrer Kowalski im weißen Dodge Challenger R/T auf der Flucht vor der Polizei quer durch die USA hetzt. Bis zum unvermeidlichen Endpunkt. Lakonischer Existenzialismus par excellence, der Richard Hudson vermutlich neidisch gemacht hätte.
“Filmriss” ist eine schwarzhumorige Abrechnung mit dem klimatisierten Alptraum, der hinter einem aufgesetzten Lächeln puren Horror verbirgt. Ein grimmiger Gesellschaftsroman, in dem es vorgeblich um Leidenschaften geht, die aber kaum mehr sind als vom Kommerz beherrschte Obsessionen. Und am Ende steht ein beleidigtes kleines Kind weinend auf der Straße. Und die verehrte Frau Mama ist nicht da, um zu helfen. Tragödien am Rockzipfel Amerikas.
Cover © Pulp Master
- Autor: Charles Willeford
- Titel: Filmriss
- Originaltitel: The Woman Chaser
- Übersetzer: Sepp Leeb
- Verlag: pulp master
- Erschienen: 08/23
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 224
- ISBN: 978-3-946582-17-5
- Sprache: Englisch
- Sonstige Informationen:
Wertung: 11/15 dpt