Chantal im Märchenland (Kino)


Was ist eigentlich aus Chantal geworden, dem Mädchen mit dem blauen Lidschatten und dem pinken Lippenstift? Die Antwort ist schnell getippt: Nix.
Auch Jahre nach ihrem Abschluss lebt Chantal immer noch so wie damals, als sie mit ihrer Klasse heimlich Fack ju Göhte auf einen Zug gesprayt hat. Sie ist überschminkt, hat einen schlechten Kleidungsstil und hofft darauf, Influencerin zu werden, während sich die ersten Falten ihrer leuchtenden Augen bemächtigen.

Als sie mit ihrer besten Freundin Zeynep mal wieder in den Jugendtreff geht, um ein paar Senfeier zu stibitzen, wird zeitgleich ein mannshoher Spiegel als Spende abgeliefert. Der Spiegel sieht schick aus, ganz schön schnörkerlig und übertrieben, ein bisschen wie Chantal. Aber sein Geheimnis lüftet er erst, als die Dauergescheiterte aus Kreuzbergien ihren Hüftschwung vollführt und fragt, wer die Geilste im ganzen Land sei. Wie in jedem Märchen antwortet der Spiegel. Allerdings ist er ein wenig anspruchsvoller, denn er saugt Chantal und Zeynep gleich auf, sodass die beiden Berufsjugendlichen in einer wahren Märchenwelt aufwachen.
Die Eine in einem wunderschönen Schloss. Die Andere unter dem goldkackenden Hintern eines Esels. Und wie in jedem Märchen hat die Prinzessin auch hier eine große Herausforderung zu meistern. Denn das Märchenland schwebt in Gefahr. Zeit also für Chantal, das Schicksal anzupacken und endlich mal tätig zu werden. Vielleicht gelingt sogar das ein oder andere gute Video für den Blog. Und dann wird das
doch noch was mit dem Durchbruch als Influencerin.

Was zunächst einfach und banal klingt, ist ein herrlicher Ausflug in eine Welt, die so skurril und abgedreht ist, dass man sie nur ungern wieder verlässt. Daran sind vor allem die vielen Lacher schuld, die den Film wie eine rote Linie durchziehen. An dieser Stelle: Danke, Jella Haase!
Die 31-Jährige spielt Chantal so überzeugend, dass es schwerfällt, die Künstlerin nicht als das Mädchen zu betrachten, das leise heulen soll. Ihre Sprüche zeugen von einer wunderbaren Naivität und sind dabei so ungewollt komisch, dass das Schauen des Films einem zweistündigen Lauern auf den nächsten Kalauer gleichkommt.
„Dafür braucht man Triggerwarnung“, sagt sie beispielsweise, nachdem sie von dem verzauberten Spiegel eingesogen wurde. Kaum erfährt sie, dass sie Dornröschen ist, protestiert sie lautstark: „Ich will ein anderes Märchen. Eins mit Drogen. Und Sex.“

Und genau hier liegt Chantals große Stärke. Sie ist eben nicht nur die kleine Dumme, bei der es leichtfällt, über sie hinwegzulächeln. Im Gegenteil. Chantal ist eine wahre Heldin. Denn mit ihrem Protest widersetzt sie sich lautstark den Gepflogenheiten der Gesellschaft, sei es im Märchen oder in der Realität. Wie jede*r weiß, benötigt Dornröschen einen wahren Prinzen, der sie aus ihrem Schlummer wachküsst. Ganz folgerichtig stellt Chantal die Frage: „Was ist denn, wenn ich ihn nicht gut finde?“

An dieser Stelle setzt die ernste Thematik in der Constantin-Produktion an. Denn so lustig der Film auch ist, ist er in seiner Aussage vergleichbar mit Barbie. Er ist von Grund auf feministisch! Er stellt Rollenbilder infrage. Er weist darauf hin, welche falschen Vorbilder unseren Kindern vorgesetzt werden. Und er zeigt auf, dass Märchen für Mädchen alles andere als märchenhaft sind, sondern vielmehr eine Form, um Frauen kleinzuhalten. Nicht zuletzt bricht er mit seinem erfolgreichen Vorgänger Fack ju Göhte, in dem
Frauen entweder als Nutten (Zitat Danger) oder als ungefickte alte Jungfrau (Zitat Caro Meyer) dargestellt werden.

Chantal setzt sich zur Wehr, als Prinz Bosco, gespielt von Max von der Groeben, sie ungefragt küssen will. Sie schubst ihn weg und belehrt ihn, dass man sich erstmal vorzustellen hätte. Gleichzeitig sieht sie gar nicht ein, warum sie den Typen mit dem schmerzverzerrten Gesicht heiraten soll, wo Aladdin doch viel heißer ist. Chantal bricht aus der Erwartung an ihr aus, die die Gesellschaft an sie stellt.
Sie denkt im Traum nicht daran, sich irgendjemandem unterzuordnen.

Doch es ist nicht nur Chantal, die aufbegehrt. Wirft man einen Blick auf Ritter Artolf, der hier wunderbar von Frederick Lau verkörpert wird, erkennt man einen Mann, der es weiß, sich als solcher zu präsentieren. Immer wieder versucht er, ein Schwert, angelehnt an Excalibur, aus Stein zu ziehen. Stetig erfolglos. Allerdings ändert dieser Umstand nichts an seinem Selbstbewusstsein. Kurz: Artolf ist der Geilste. Denkt er. Erst Prinzessin Amalia, seine wenig überzeugte Verlobte, gelingt es, das Schwert zu befreien.
Flugs gibt der Ritter den Erfolg als seinen eigenen aus. Dieser Umstand ist so klassisch wie aktuell, denn anhand dieses Bildes weist Regisseur Bora Dagtekin auf das Unsichtbarmachen von Frauen hin.

Unzählige Frauen haben bereits Großes geleistet, wurden jedoch weder namentlich erwähnt noch in irgendeiner Form für ihre Leistung entlohnt.
Die Kette reicht von Elisabeth Hauptmann über Mileva Maric bis hin zu Rosalind Franklin. Doch anders als es diesen realen Frauen möglich war, setzt sich Prinzessin Amalia gegen ihren Verlobten durch. Es ist letztlich Chantal und einem Drachen mit Komplexen zu verdanken, dass Artolf als Winzling endet, beleidigt wie ein stures Kind.

Gleichzeitig geht es jedoch nicht nur um die Gleichstellung von Frauen. Die Geschichte handelt davon, Klischees endlich zu verlassen und für eine tolerantere Gesellschaft einzustehen. Das schließt ein, dass Menschen jeglicher sexuellen Orientierung, jeglicher Herkunft und jeglichen Aussehens gleich wertvoll sind.

Ob diese Aussagen beim Kölner Publikum auf der Filmpremiere
am 30. März genauso ankamen, bleibt verborgen. Nicht verborgen blieb hingegen die große Begeisterung, der sich im lauten Beifall im ausverkauften Kinosaal äußerte. Umso schöner war es, dass nicht nur Regisseur Bora Dagtekin anwesend war, sondern ebenso die Schauspielerinnen Jella Haase (Chantal), Gizem Emre (Zeynep), Mido Kotaini (Aladdin) sowie Max von der Groeben (Prinz Bosco).

Wie war es also für die Künstler*innen, ein weiteres Mal für Dagtekin vor der Kamera zu stehen? Für von der Groeben war die Antwort klar: „Was kann es Schöneres geben für einen Kölner, als einmal Prinz zu sein?“
Für Haase stand hingegen von vorneherein fest: „Wenn Chantal zurückkommt, dann mit einem großen Knall.“ Auch Emre hat sich „richtig doll in diesen Film verliebt“. Und „der Neue“? Kotaini erzählte davon, dass er „ganz herzlich empfangen“ wurde im Fack ju Göhte-Team.
Die schönste Frage des Abends kam von einem sechsjährigen Mädchen, das zuvor von Max von der Groeben auf die Bühne gebeten wurde. Sie lautete: „Wie macht man das mit dem Küssen?“ Eine berechtigte Frage! Denn da es sich um ein Märchen handelt, kommt das Küssen nicht zu kurz. Max´ Antwort (mit viel Schmunzeln in der Stimme): „Das mussten wir einfach machen.”

Fazit
Wie nicht anders zu erwarten, kommt der Film an manchen Stellen zu überspitzt daher. Gleichzeitig kommt er aber genau zur rechten Zeit. In einer Zeit, in der die Nachrichten beherrscht werden von Kriegen, Hass und Angst, ist die Produktion genau das Richtige, um Abstand zu nehmen von den Sorgen, die überall auf uns warten.
Wovon handelt also „Chantal im Märchenland“, wenn es aber auch nicht eben nur um Witze und Pointen und das Küssen geht?

Der Film ist ein Märchen. Ein wunderschönes Märchen. Und wie alle Märchen hat er eine Botschaft. Sie lautet: Nehmt das Schicksal in die Hand! Habt doch endlich mal Spaß bei dem, was ihr tut! Und: Schreibt die verflixten Märchen endlich mal genderneutral, ihr Blindschleichen!

  • Titel: Chantal im Märchenland
  • Produktionsland und –jahr: Deutschland, 2024
  • Genre: Filmkomödie
  • Offizieller Kinostart: 28.03.2024
  • Label: Constantin
  • Spielzeit: 123 Minuten
  • Darsteller*innen: Jella Haase
    Gizem Emre
    Mido Kotaini
    Max von der Groeben
    Maria Ehrich
    Nora Tschirner
    Elyas M´Barek
  • Regie: Bora Dagtekin
  • Drehbuch: Bora Dagtekin
  • Produzent*innen: Oliver Berben
    Martin Moszkowicz
    Gilbert Möhler
    Lena Schömann
    Nicole Springstubbe
    Bernhard Thür
  • Kamera: Christian Rein
  • Schnitt: Sabine Panek
    Robert Kummer
    Constantin von Seld
    Claus Wehlisch
  • FSK: 12

Wertung: 12/15 dpt


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