Natasha Pulley – Der Uhrmacher in der Filigree Street (Buch)


Die Zukunft im Fluss der Zeit

Der Uhrmacher in der Filigree Street © Hobbit Presse

Als der Telegrafist Thaniel Steepleton an einem Abend im Oktober 1883 in sein Pensionszimmer heimkehrt, hat er einen aufregenden Tag in seinem sonst langweiligen Job im Innenministerium erlebt. Denn schließlich kommt nicht jeden Tag die Nachricht herein, dass in einem halben Jahr ein Bombenanschlag verübt wird. Offensichtlich holt der Clan na Gael zum großen Schlag gegen die britische Regierung aus. Noch bemerkenswerter erscheint Thaniel, dass anscheinend jemand in sein Zimmer eingebrochen ist. Jedoch nicht um etwas zu stehlen, sondern um etwas zu hinterlassen: eine besonders fein gearbeitete mechanische Taschenuhr. Allerdings lässt sie sich nicht öffnen und funktioniert nicht.

Am 30. Mai 1884 läuft die Uhr, öffnet ihr Gehäuse und offenbart ein Signet des Uhrmachers: K. Mori, Filigree Street, Knightsbridge. Der Arbeitstag im Innenministerium bringt eine Entwarnung vor dem Anschlag. Erleichtert kehren nach Feierabend die Telegrafisten im Pub „Rising Sun“ ein. Thaniel bekommt gerade seinen Brandy, als die Uhr einen penetranten Warnton erschallen lässt. Noch gerade rechtzeitig verlässt er den Pub, bevor die Bombe explodiert.

Thaniel sucht den Uhrmacher auf, einen Japaner, der in Knightsbridge eine Werkstatt betreibt. Keita Mori versorgt seine Verletzungen und bietet ihm einen Schlafplatz an. Doch die Polizei verdächtigt ausgerechnet diesen freundlichen Mann, die Bombe gebaut zu haben. Superintendent Dolly Williamson bittet den Telegrafisten, Mori zu beobachten. Daraufhin zieht er bei Mori in ein zur Vermietung freistehendes Zimmer ein. Was Thaniel über den Uhrmacher herausfindet, kann er der Polizei nicht erzählen. Denn wer würde ihm schon glauben, dass sein Vermieter über hellseherische Kräfte verfügt.

Vom historischen Krimi zum phantastischen Zukunftsroman

Nicht alle Rezensionen zum Roman „Der Uhrmacher in der Filigree Street“ fallen positiv aus, denn die Story nimmt eine äußerst ungewöhnliche Wendung. Die Geschichte startet als historischer Krimi mit einem Bombenattentat auf britische Regierungsgebäude, vermeintlich ausgeführt von der Irisch-Republikanischen Organisation Clan na Gael. Doch in den folgenden Kapiteln wird deutlich, dass mit diesem spektakulären Beginn lediglich der zeitliche Rahmen gestaltet wurde. Es geht nur am Rande darum, einen Täter zu überführen, sondern vielmehr um eine ungewöhnliche Begegnung: die des einfachen Telegrafisten Thaniel mit dem Uhrmacher aus Japan Keita Mori. Der Handlung entwickelt sich aus dieser Begegnung und hält wiederum außergewöhnliche Wendungen bereit.

Ein spezielles Ensemble

Im Interview mit phantastisch-lesen erzählte Natasha Pulley, dass der Protagonist Thaniel ihr selbst ähnelt.

Thaniel mag ich lieber, weil er einfach so ist, wie ich bin. So wie ich sein Leben beschrieben habe, so habe ich mein Leben lange Zeit selbst gelebt. Ich bin genau wie Thaniel und komme aus seinem Umfeld. Ich bin in echter Armut aufgewachsen, genau wie er. Ich bin in die Stadt gezogen, um in einem Bürojob zu arbeiten, genau wie er. Ich bin kein Musiker, aber ich bin eine Schriftstellerin. Also hatte ich einen Stapel Papier unter meinem Bett, von dem niemand wusste. Genau wie Thaniel.

Zusätzlich verfügt Thaniel über eine besondere Gabe: Er ist Synästhetiker. Er nimmt Töne und Musik als Farben wahr. Diese Erfahrung fließt immer wieder in die Handlung ein und wird sehr eindrücklich beschrieben.

Keita Mori kommt zunächst sehr geheimnisvoll herüber. Gemeinsam mit Thaniel entdecken Lesende seine interessante Persönlichkeit und Historie als unehelicher Sohn eines japanischen Fürsten. Und dessen besonderen Blick auf eine mögliche Zukunft. Thaniel ist als Identifikationsfigur angelegt, sein Gegenpart ist die Physikerin Grace Carrow. Sie ist die Unsympathin. Grace ordnet ihrer wissenschaftlichen Karriere alles andere unter. Für eine Frau ist es im späten 19. Jahrhundert unmöglich Wissenschaft zu betreiben, deshalb verkleidet sie sich an der Universität als Mann. Sie ist selbstbewusst und hochmütig, spottet über Frauen, die sich für ein Frauenwahlrecht einsetzen. Trotz ihrer Intelligenz fehlt ihr das Transfervermögen, dass die Ziele der Aktivistinnen ihren eigenen Zielen dienlich sein könnten.

Sie hatte eine Tischplatte aufgebockt, auf der nun Spiegelstücke und etliche Bügelsägen lagen. Daneben stand das Taufbecken, das sie sich aus der Kapelle des New Collage geborgt hatte. Darin lag eine Holzplatte, auf der die vier Arme des Interferometers kreuzförmig angeordnet waren. Obwohl man auch mit einem Magneten und einigen Eisenfeilspänen richtige Wissenschaft betreiben konnte, vermittelte es ein viel professionelleres Gefühl, etwas gebaut zu haben, das wie eine mutierte Windmühle aussah. Wissenschaft musste etwas Rätselhaftes ausstrahlen, sonst wäre bald jeder dahintergekommen, wie einfach es im Grunde war.S. 172

Bildhaft und konsequent aus der Perspektive der Erzählenden und gemäß ihrem Zeitgeist

Natasha Pulley hat für ihren „Uhrmacher“ Roman akribisch recherchiert, nicht nur die Historie Großbritanniens und Japans, sondern auch die Schauplätze und die Lebensweise des späten 19. Jahrhunderts. Wissenschaftlich interessierten Lesenden gönnt die Autorin einen interessanten Blick auf den Stand der Äther-Forschung dieser Zeit. Äther wurde als Trägermaterial des Lichts vermutet, so wie Luft für Schall. Empirische Nachweise, wie sie zum Beispiel Grace‘ Experiment erbringen sollte, wurden bis ins frühe 20. Jahrhundert gesucht, scheiterten jedoch.

Die Autorin schreibt sehr nah an den erzählenden Figuren, erzählt streng aus ihrer Perspektive und ihrem Zeitgeist entsprechend. Daher reagiert Thaniel mit den für seine Zeit typischen rassistischen Ressentiments, als er den Japaner Mori kennenlernt.

Er hatte S(rassistischer Begriff, der sich auf die Augenform bezieht). Ein Orientale. Thaniel stutzte. »Äh…sprechen Sie Englisch?« »Selbstverständlich, ich lebe ja in England«, sagte der Mann und hielt ihm eine Tasse hin. S. 66

Thaniels Rassismus wird allerdings deutlich als töricht und verachtenswert gebrandmarkt. Die von der Autorin im Entstehungszeitraum des Buchs, vor über 10 Jahren, verwendeten rassistischen Begriffe sollten wahrscheinlich ebenfalls den Zeitgeist spiegeln. Hier wäre ein Verzicht auf Wörter, die PoC-Lesenden die Lektüre sicherlich verleiden, angemessener gewesen. Eine wahrheitsgemäße Beschreibung rassistischer Verhaltensweisen war für diese Geschichte jedoch unvermeidbar, da eine imperialistische Ära ihr Fundament bildet. Es fehlt im „Uhrmacher“ nicht an anti-rassistischen Botschaften, die diese zeitgemäßen Verhaltensweisen einordnen.

Fazit

„Der Uhrmacher in der Filigree Street“ erzählt eine spannende, clockpunkige Geschichte um die Begegnung zweier außergewöhnlicher Menschen. Diese bettet die Autorin in den ereignisreichen historischen Hintergrund Großbritanniens und Japans ein und entwickelt daraus ein faszinierendes Gedankenspiel um alternative Zukunftsverläufe. Als roter Faden zieht sich eine konfliktbehaftete und zugleich berührende Liebesgeschichte durch den Plot. Zunächst nur als zarte Andeutung, gewinnt sie immer mehr an Bedeutung und ergänzt den Science-Fiction Part. Natasha Pulley vereinigt die so unterschiedlichen Handlungsebenen klug zu einem faszinierenden, runden Gesamtbild. Zugleich öffnet sie einen weiten Raum für mögliche Weiterentwicklungen der Geschichte. Was allein schon ein guter Grund ist, den Fortsetzungsband „Die verlorene Zukunft von Pepperharrow“ zu lesen.

  • Autor: Natasha Pulley
  • Titel: Der Uhrmacher in der Filigree Street
  • Teil/Band der Reihe: Uhrmacher-Dilogie, Band 1
  • Originaltitel: The Watchmaker of Filigree Street
  • Übersetzer: Jochen Schwarzer
  • Verlag: KLett Cotta, Hobbit Presse
  • Erschienen: 09/2021
  • Einband: Hardcovers
  • Seiten: 448
  • ISBN: 978-3-608-98475-0
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite beim Verlag

Wertung: 12/15 dpt


1 Kommentar
  1. Ich fand das Buch auch sehr unterhaltsam mit einem tollen Lesefluss, interessanten Charakteren und der Schauplatz London zieht bei mir sowieso immer. Die Offenbarung des Uhrmachers zum Schluss hin, hat mich dann doch etwas überrascht.

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