Karin Bojs – Mütter Europas. Die letzten 43000 Jahre (Sachbuch)


Eins vorneweg: Der Titel führt ein wenig in die Irre. Es geht natürlich nicht nur um die Mütter Europas, sondern auch um die Väter. Die schwedische Autorin Karin Bojs geht in ihrer geschichtlichen Abhandlung der spannenden Frage nach, wie sich die Gesellschaften Europas zu Beginn der Menschheitsgeschichte entwickelten. Wie organisierten sich die ersten Menschen? Welche äußeren Einflüsse und inneren Entwicklungen führten dazu, dass sich Hierarchien bildeten? Und wie sahen diese Hierarchien aus? Vor diesem Hintergrund stellt die Autorin die aufmerksamstarke Frage: Wann und warum entstand das Patriarchat?

Bojs geht in ihrer Darstellung bis zu den Ursprüngen der Menschheitsgeschichte zurück. Sie berichtet vom Auftauschen erster humanoider Lebensformen, zeigt, welchen Einfluss der Neandertaler auf die Entwicklung des modernen Menschen hatte, verfolgt die zahlreichen Migrationswellen, die dazu führten, dass sich der Genpool immer wieder mischte und sich der Mensch allmählich immer weiter ausbreitete.

Nicht mehr wegzudenken aus der Archäologie ist inzwischen die DNA-Forschung, die der Wissenschaft während der letzten Jahre völlig neue Einblicke verschaffte und dadurch zu bahnbrechenden und auch sehr überraschenden Erkenntnissen führte.

Vor diesem Hintergrund würdigt die Autorin die frühen Thesen ihrer Wissenschaftskolleginnen Zsofia Torma und Marija Gimbutas. So ging die Archäologin Gimbutas davon aus, dass Frauen in früheren Bauerngesellschaften viel mehr Macht besaßen als zu späteren Zeiten in Europa. Die Ergebnisse der jüngsten Forschung geben ihr heute Recht. Anhand von DNA-Analysen ist inzwischen bewiesen, dass das Geschlechterverhältnis in prähistorischen Gesellschaften sehr viel gleichberechtigter war als später.

Bojs‘ Text ist eine Schatztruhe wissenswerter und spannender Fakten. Sie verblüfft mit Erkenntnissen über die Entstehung der Schrift. Sie geht auf frühe Kunst ein, beschreibt anschaulich wie sich das Verhältnis von Mensch und Tier im Laufe der Sesshaftwerdung veränderte, wobei sie einen besonderen Blick auf die Rolle des Hundes wirft. Hochwertige Abbildungen in der Mitte des Buches illustrieren einige der genannten Artefakte. Ein ausführliches Quellenverzeichnis sowie ein umfangreiches Personen- und Ortsregister komplementieren die akribische Aufbereitung der Autorin.

Trotz der zahlreichen Details, die Bojs ins Spiel bringt und der vielen Nebenschauplätze, die sie aufmacht, um die erzählte Geschichte anschaulicher zu machen, gelingt es ihr immer, den roten Faden zu behalten. Ihre Art, von Forschung und Ergebnissen zu schreiben, ist mitreißend und gut verständlich. Obwohl sie manches populärwissenschaftlich vereinfacht, überwiegt der wissenschaftliche Stil ihrer Darstellung. Immer ist sie sachlich. Nie gibt sie der Versuchung nach, um des Effekts willen, schnelle populäre Thesen auszupacken. Im Gegenteil: Sie ist in diesem Punkt sogar penibel zurückhaltend.

Ihr Vorgehen ist absolut seriös, aber punkto Erwartungshaltung der Leser ist es zugleich etwas enttäuschend. Denn gerade im Hinblick auf die eigentliche Frage nach dem Ursprung des Patriarchats, also danach, wodurch sich die Rollen- bzw. Machtverteilung zwischen den Geschlechtern ausschlaggebend zugunsten der Männer entwickelt haben könnte, bietet Bojs keine nennenswerten Erklärungsmodelle an.

Zwar fasst Bojs zusammen, dass dieser „Machtwechsel“ mit zunehmender Mobilität und dem Aufkommen des Handels zusammenfiel. Sie legt dar, dass diese expansiven Tendenzen von Männern  – und nicht selten gewaltsam – getragen wurden. Sie stellt fest, dass es im Rahmen dieser Entwicklung innerhalb relativ kurzer Zeit zu einer vorher nicht dagewesenen Konzentration von Reichtum bei einzelnen Gruppen kam, wodurch sich Machtkonzentrationen erklären ließen. Doch eine These, darin die mögliche Ursache für die Entstehung des Patriarchats zu sehen, formuliert sie nicht.

So bleibt sie skeptisch im Hinblick auf die Berichterstattung über den Fund eines Wikingerfrauengrabes und der These einiger Wissenschaftler, es könne sich um eine Kriegerin, eine Walküre, handeln:

Wir gieren ja regelrecht nach Geschichten über starke Frauen – als Kompensation für all jene, die früher von der Geschichtsschreibung „vergessen“ wurden.

Seite 213

Bojs betrachtet den vom modernen Zeitgeist getriebenen Wunsch nach einer Darstellung zugunsten des weiblichen Geschlechts mit vorsichtiger Zurückhaltung – was mit ihrem wissenschaftlichen Anspruch durchaus zu vereinbaren ist. Warum sie jedoch das Wort „vergessen“ im Zusammenhang mit denjenigen Frauen, denen man in der Geschichtsschreibung die verdiente Anerkennung versagt hat, in Anführungszeichen setzt, erscheint nicht plausibel.

Auch wenn die auf dem Klappentext gestellte Frage: „Wann und warum entstand das Patriarchat?“ nicht beantwortet wird, ist dieses Sachbuch ein echte Bereicherung für alle Geschichtsinteressierten. Bojs gelingt es, frühste Menschheitsgeschichte übersichtlich und lebendig darzustellen und dabei den Stand der Wissenschaft alles andere als trocken zu referieren.

  • Autorin: Karin Bojs
  • Titel: Mütter Europas: Die letzten 43000 Jahre
  • Originaltitel: Min europeiska familj.
  • Übersetzer: Erik Gloßmann
  • Verlag: C.H. Beck
  • Erschienen: Februar 2024
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 252 Seiten
  • ISBN: ‎ 978-3406813870


Wertung: 13/15 dpt


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