Ferdinand von Schirach – Sie sagt. Er sagt. (Buch)


Sie sagt. Er sagt.

© btb Verlag

Sie sagt: Er hat mich vergewaltigt. Er sagt: erstmal nichts. Um herauszufinden, was an dem Nachmittag des 14. August passiert ist, tagt ein Berliner Landgericht in einer Verhandlung, bei dem die Kläger sowie Sachverständige und unerwartete Zeugen zu Wort kommen. Ein klarer Fall also. Oder?

Nach Sie sagt. Er sagt. legt Ferdinand von Schirach sein viertes Theaterstück vor. Nachdem sein Vorgänger Regen vor allem durch seinen Monolog und seine Kürze von sich Reden gemacht hat, findet der Autor mit seinem neuesten Werk zu gewohnten Mustern zurück.

Worum geht´s? Das Buch handelt von dem Fall einer Vergewaltigung. Doch da von Schirach es seinen Leser*innen ungern leicht macht, zeigt er uns auf, wie facettenreich dieses Verbrechen erscheinen kann. Somit liegt hier kein klarer Fall vor. Die Vorstellung von einem Gewalttäter, der im Park eine Joggerin überfällt, um sie dann zu missbrauchen, wird hier wird nicht bedient. Stattdessen geht von Schirach auf die Komplexität ein: Der Täter ist der Liebhaber des vermeintlichen Opfers. Der Akt findet zunächst einvernehmlich statt. Zunächst. Es geht also nicht darum, einen Triebtäter hinter Gittern zu bringen. Vielmehr stellt sich die Frage, wo einvernehmlicher Geschlechtsverkehr aufhört und der Straftatbestand der Vergewaltigung beginnt.

Um diese Frage zu beantworten, betrachten die Leser*innen den Fall aus verschiedenen Perspektiven. Beweisstücke werden vorgelegt. Alles scheint eindeutig. Bis die Verteidigung Fragen stellt, die wiederum den gesamten Fall infrage stellen. Die Überzeugung wird erschüttert. So fährt die Verhandlung fort. Bis sich schließlich jemand zu Wort meldet, der einen völlig neuen Aspekt einbringt.

Mit Sie sagt. Er sagt. findet Ferdinand von Schirach ein weiteres Mal zu literarischen Höhen. Seine Sätze sind von einer charakteristischen Kürze geprägt.

VORSITZENDER

Wie meinen Sie das?

SCHLÜTER

Im Badezimmer waren seine ganzen Sachen. Sein Parfum, sein Rasierer, seine Manschettenknöpfe. Ich kannte das alles. Es war mir so vertraut. Jetzt ekelte es mich. Mich ekelte alles daran.

Besonders gelungen erscheint in diesem Kontext, dass es dem Schriftsteller trotz der Kürze gelingt, seinen Figuren Leben einzuhauchen, indem er ihnen allein durch ihre wörtliche Rede Charisma verleiht.

Da ist Schlüter, die weiblich, sanft, gleichzeitig gefasst und klug auftritt. Biegler, der Vertreter der Nebenklägerin, der gelangweilt und provozierend daherkommt. Vor dem inneren Auge entsteht ein Mann, der auf seinem Stuhl lümmelt wie ein unartiger Schuljunge. Der frech grinst, hineinruft, die Krawatte nachlässig gebunden hat.

BRESLAU

Gefasst also. Ja. Frau Schlüter wirkte gefasst. Ich verstehe. Sie sind nun seit fast 25 Jahren in dieser Fachdienststelle. Sie verfügen über eine enorme Erfahrung in solchen Verfahren. Können Sie…

BIEGLER

Unterbricht.

…sagen Sie doch gleich, die Polizistin ist Gott.

All diese Menschen werden lebendig, haben eine eigene Stimme. Interessant ist daher, dass ausgerechnet der Angeklagte stumm bleibt. Während der gesamten Verhandlung verweigert Christian Thiede die Aussage. Umso unsichtbarer wird er. Lediglich durch einige wenige Happen an Informationen lässt sich grob ein Bild zeichnen.

Er ist in den Fünfzigern. Er ist Geschäftsmann. Er trägt Manschettenknöpfe, scheint also wohlhabend zu sein.

Dieser Umstand umhüllt den Angeklagten in einen Schleier, der gelüftet werden will. Wie ein Mysterium erscheint der Mann, von dem gesprochen wird. Umso mehr steigt die Spannung. Er soll endlich reden.

Wie für von Schirach üblich, füttert er sein Werk mit sachlichen/fachlichen Informationen. Hier lässt er anhand von Sachverständigen darüber informieren, wie die Zahlen in Bezug zu Vergewaltigungen aussehen, wer Opfer, wer Täter sind, wo dieses Verbrechen am häufigsten stattfindet und welche Folgen Frauen zu berücksichtigen haben, sollten sie sich dazu entschließen, den Täter anzuzeigen.

Wie schon bei seinen zahlreichen Publikationen zuvor erscheint der Autor hier trotz seiner bestechenden Sachlichkeit als ein Vertreter der Opfer, beziehungsweise der Frauen, denen Gewalt angetan wird. Umso erstaunlicher glänzt seine Leistung, den fiktiven Fall so zu inszenieren, dass… Tja, da würde zu viel verraten.

Fazit:

Mit Sie sagt. Er sagt. legt Ferdinand von Schirach ein Werk vor, das an seine üblichen literarischen Hochleistungen anknüpft. Der Fall ist klug arrangiert. Winzige Spuren werden gelegt. Widersprüchliche Aussagen werden gemacht. Verwirrende Fragen werden gestellt. Und am Ende bleiben Leser*innen zurück, deren Köpfe noch mit dem Fall und der daraus resultierenden Verhandlung beschäftigt sind, während sich die Herzen am Lesererlebnis eines klassischen von Schirach erfreuen.

  • Autor: Ferdinand von Schirach
  • Titel: Sie sagt. Er sagt.
  • Verlag: btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe
  • Umfang: 144 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: 28. Februar 2024
  • ISBN: 978-3-442-77466-1
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Autorenseite

Wertung: 15/15 dpt


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