EDIT:
Wie bereits im Kommentar unten von einer aufmerksamen Leserin benannt wurde, handelt es sich bei diesem Buch um Fiktion und auch das Vorwort und der Herausgeber, der ein Tagebuch im Nachlass von Charcot entdeckt haben will, sind rein fiktiv.
Für mich war das im Buch nicht klar erkennbar – im Gegenteil fände ich es gar nicht so undenkbar, dass auch jetzt noch unbekannte Quellen auftauchen – und die untenstehende Rezension wurde dementsprechend verfasst.
Nachdem ich nun diese Information nachträglich erhalten habe, bleibt mir das Buch leider nicht mehr so positiv in Erinnerung. Fiktive Vor- und Nachwörter haben durchaus ihre Berechtigung und können besonders historische Fiktion noch zusätzlich bereichern. Positivbeispiele wären da zum Beispiel das Nachwort in „Mr. Goebbels Jazzband“ von Demian Lienhard oder das Vorwort in Umberto Ecos „Der Name der Rose“ (vielen Dank für den Tipp!). In beiden Werken ist sowohl am Stil wie auch durch eine kurze Google-Suche erkennbar, dass es fiktiv ist. Das Vorwort in „Nachtblaue Blumen“ hält sich jedoch sehr nah an tatsächliche Begebenheiten und hält einer groben Recherche stand (an der Sorbonne in Paris gibt es tatsächlich Bücher, Manuskripte etc. aus Charcots Nachlass einzusehen).
Dazu stellt sich der Umfang des Buches für mich nun auch in einem völlig anderen Licht dar. Dass die Übersetzung eines Tagebuches nicht mehr als 126 Seiten hätte, leuchtet mir ein. Wenn es sich aber um eine fiktive Geschichte über die Frauen in Salpêtrière handelt, würden die Schicksale dieser Frauen wohl Plotmaterial für 500 Seiten und mehr bieten.
Ich wünsche trotzdem viel Spaß mit der folgenden Rezension, die noch voller Begeisterung für das Buch war. Im Nachhinein gäbe es von mir aber, wegen der oben genannten Gründe, nur noch fünf statt fünfzehn dpt.
Das Krankenhaus „La Salpêtrière“ in Paris. Berühmt-berüchtigter monumentaler Bau, in dem 1975 Josephine Baker und 1997 Prinzessin Diana starben.
1656 als psychiatrische Klinik, besonders für Frauen, gegründet, blieb ihm dieser Schwerpunkt bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten.
Am Ende des 19. Jahrhunderts war „La Salpêtrière“ vor allem bekannt für seine Forschung über „Hysterie“, diese „Geisteskrankheit“, die vor allem Frauen befiel und für die es die abenteuerlichsten Erklärungen gab. Dass diese Frauen aber seltener unter einer psychischen Erkrankung und mehr unter den Zuständen in einer patriarchalen Gesellschaft litten, ist z. B. in Beatrice Frasls Buch „Patriarchale Belastungsstörung“ gut dargestellt.
Ca. um 1890 herum spielt auch „Nachtblaue Blumen“ von Alexander Kamber. Anders, als Klappentext und Beschreibung aber vermuten lassen, handelt es sich bei Herrn Kamber nicht um den Autor des Buches, sondern um den Übersetzer und Herausgeber. Die namenlose Ich-Erzählerin hat während ihrer Zeit in der Nervenklinik Tagebuch geführt, welches im Nachlass vom berühmten Pariser Neurologen Charcot gefunden wurde. Es handelt sich also um einen wortgetreuen Zeitzeuginnen-Bericht, der ganz allein für sich steht und keinerlei Ergänzungen oder Überarbeitung benötigt.
Eindrücklich, teilweise poetisch, düster und manchmal auch sarkastisch, berichtet eine sechzehn Jahre alte Cabaret-Tänzerin, die eingeliefert wurde, weil sie nicht mehr tanzen will (was für ein Grund!), von ihrem Heilungs- oder auch Verschlimmerungsprozess in der Klinik.
Sie schließt Freundschaften, erarbeitet sich eine privilegierte Position, wird (vermutlich) von Sigmund Freud behandelt, nur um dann umso tiefer zu fallen und die Lesenden ratlos zurück zu lassen. Was stimmt nicht mit ihr? Ist es die Abwehr gegenüber ihrem Patron und dem Besitzer des Cabarets? Schwingen da Missbrauchserfahrungen mit? Oder ist es ein krankhaftes Geltungsbedürfnis und der Schrei danach, geliebt zu werden? Die namenlose Autorin lässt sich selbst, die Ärzte und auch uns darüber im Dunkeln – das Ende bleibt offen.
Besonders beeindruckt hat mich ihr Sprachgeschick. Das Buch wirkt an kaum einer Stelle so, als sei es die Übersetzung eines Tagebuchs. Stattdessen gibt es eine Vielzahl prosaischer Schönheit und weiser Aussagen, die auch heute noch Bestand haben.
Das Buch hat nur 126 Seiten und hat mich trotzdem nachdenklicher zurückgelassen als so mancher 500-Seiten-Klopper.
Die Lebensgeschichte einer Person mit, die der Veröffentlichung niemals zustimmen konnte, mit Punkten zu bewerten, fühlt sich nicht richtig an und entbehrt auch jeglichen Bewertungskriterien. Ausgehend von dem, was das Buch aber in mir ausgelöst hat, kann ich nur die volle Punktzahl geben!
- Autorin: Alexander Kamber
- Titel: Nachtblaue Blumen
- Verlag: Limmat
- Erschienen: 14.03.2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 126
- ISBN: 978-3-03926-074-4
- Produktseite
Wertung: 15/15 dpt
Liebe Karoline
Das Buch ist ein Roman, wie man auf dem Einband lesen kann. Es wurde von einem Autor verfasst über eine Figur, die rein fiktiv ist. Die Einleitung zum Fund des Tagebuchs ist rein fiktiv. Das kann man alles relativ einfach nachprüfen, wenn man den Autor einmal googelt.
Liebe Grüsse
Liebe Gianna,
Vielen Dank für deinen Kommentar und den Hinweis. Tatsächlich war ich mir nicht sicher, ob die Einleitung fiktiv ist und habe den Autor gegoogelt. Leider bin ich aber nicht dementsprechend fündig geworden, dass es sich doch um einen Roman handelt und habe der Einleitung Glauben geschenkt. Hättest du da vielleicht eine Quelle, die anderes darstellt?