Bernadine Evaristo – Girl, Women, Other (Buch)


© Penguin

“Girl, Women, Other” von Bernadine Evaristo ist ein Buch, das nicht nur gerade intellektuelle, “woke” Kreise im Sturm aufgenommen hat, sondern auch das erste Buch eines/einer Schwarzen Autor*in ist, welches den Booker Prize bekommen hat – einen Preis, der nur an Autor*innen in Commonwealth-Ländern vergeben wird und noch immer von der Kolonial- und Rassismusgeschichte geprägt ist.

Insgesamt sagen Preise nicht viel aus – wenn man möchte, kann man einen eigenen gründen und diese HelloFresh-Rabattkarten, die einem gefühlt hinterhergeworfen werden, an Gewinner*innen vergeben. Aber als Schwarze Autorin das erste Mal überhaupt Preise in einer Industrie zu erhalten (und der Booker-Preis ist echt eine große Sache), die davon geprägt ist, rassistisch zu sein und Außenseiterperspektiven abzulehnen, ist doch ein starkes Zeichen.

Aber was macht das Buch so besonders?

In “Girl, Women, Other” geht es um zwölf, hauptsächlich Schwarze, Frauen und eine nichtbinäre Person, deren Leben durch unterschiedliche Wege miteinander verbunden sind und sich zum Schluss bei einem lesbisch-feministischen Theaterstück begegnen. Darunter gehören die kommunistisch-queerfeminisitische Theaterredakteurin Amma und ihre buchschlaue Tochter Yas, die lernt, dass Privilegien und Benachteiligung doch nicht so Schwarz-Weiß sind, wie sie bisher dachte. Wir erleben Carol, die sich als Kind von Migranten und nach einer Vergewaltigung in einer Brennpunktschule hocharbeitet, um dann in ihrem wichtigen Finanzjob weiterhin Rassismus und Sexismus zu erleben – während ihre Mitschülerin LaTisha mehrere Date-Rape überlebt und versucht sich selbst und ihren ungeplanten Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Wir haben Hattie, die als Migrantin versucht, sich in England eine Existenz aufzubauen, aber aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe von den Bewohnern ihrer Kleinstadt ausgeschlossen wird.

Evaristo hat die Leben sichtbar gemacht, die sonst in Büchern, Filmen, Nachrichten und Musik unsichtbar bleiben: Schwarze Menschen, die auch noch intersektional diskriminiert werden. Indem sie sichtbar gemacht hat, wie vielschichtig und ungleich die Leben von Schwarzen Frauen und Nicht-Binären mit unterschiedlichen Privilegien und Benachteiligungen sind – darunter gehören Migrationsgeschichte, Bildungsgrad, Wohlstand, Geschlechtsidentität und -zuschreibung und Sexualität – hat sie Schwarze Menschen als Individuen, statt Stereotypen oder Nebenfiguren in Erscheinung treten lassen. Das ist etwas, das selten passiert und noch seltener Mainstream wird.

Mit diesem Buch bietet Evaristo etwas, was so schwer in Werken von nicht-marginalisierten Menschen zu finden ist: Sichtbarkeit von unterschiedlichen Lebensrealitäten und marginalisierte Figuren, die selbst Handlungsmacht haben. Gerade weil bisher – egal, ob es sich hierbei um queere Literatur, Literatur von rassifizierten Menschen oder Literatur von Menschen mit Behinderung handelt – es selten nicht-stereotype Darstellungen gibt. In “Girl, Women, Other” aber, können sich gerade die Menschen in den Figuren wiederfinden und gesehen fühlen, die bisher von der populären Kunst und Medien ausgeschlossen worden sind. 

Während es Millionen Varianten von hetero Liebesgeschichten gibt (die auch ein breites Maß an schlechtgeschriebenen und unreflektierten Kink- und Sexpraktiken abdecken), gibt es kaum Liebesgeschichten zwischen nicht-hetero Menschen, behinderten Menschen oder rassifizierten Menschen.

Dieses Sichtbarmachen von Lebensrealitäten, die man so sonst nicht erfährt, führt dazu, dass mehr Menschen “repräsentiert” werden – also Teil des gesellschaftlichen Diskurses sind. Das führt dazu, dass nicht mehr die klischeehafte und stereotype Darstellung von Personengruppen dominiert, sondern mehr Perspektiven gesehen werden und marginalisierte Personengruppen selbst über ihre Darstellung entscheiden und mitreden können. Gerade in Zeiten, in denen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit wieder stärker zunehmen, ist es wichtig, dass diskriminierte Personengruppen über ihre Darstellung selbst entscheiden können und nicht mehr von Fremdbeschreibungen definiert werden.

Dieses Aufzeigen von Lebenswirklichkeiten erfüllt aber nicht nur einen intellektuellen Selbstzweck: Die zwölf erzählten Geschichten sind auch einfach spannend! 

Evaristos Schreibstil ist dabei für manche gerade am Anfang schwierig, denn sie verzichtet auf das Großschreiben bei Satzanfängen und auf Punkte als Satzende. Für die, die sowieso keine Punkte und Komma mitlesen, wird das aber kein Problem sein. Vielmehr hat der Schreibstil den Inhalt des Buchs unterstützt, da es auch eine Kritik am Bildungsbürgertum und Kolonialismus ist. Als Kolonialismus aktiv in afrikanischen und asiatischen Staaten noch offen und mit Gewalt umgesetzt wurde, wurden den unterschiedlichen Völkern politische Systeme, rigide Geschlechterrollen und eine katholische Sexualmoral aufgezwungen. Weißes Wissen – darunter die Sprache der Kolonisatoren, aber auch Philosophien und medizinische Praktiken – wurden so zum aufgezwungenen Standard, obwohl es viele Völker gab, die selbst in vielen Bereichen um einiges weiter waren (darunter gehörte auch das Händewaschen vor OPs, was erst später in Europa ankam). In den Kolonialstaaten selbst wurden Arbeiter*innen durch menschenverachtende, ausbeuterische Arbeitsbedingungen, aber auch der Vorenthalt von Bildung klein gehalten und gerade von wohlhabenden Schichten abgewertet. Diese Konsequenzen sehen wir noch immer: Rassifizierte Menschen werden in der Schule, in der Medizin, auf dem Arbeitsmarkt noch immer benachteiligt, während gerade Menschen aus dem Arbeitermilieu selten ein sozialer Aufstieg gelingt. Möchte man aufsteigen, versperren Hürden wie Sprache und Wortwahl, Etikette, Kleidungsstil und fehlendes kulturelles Kapital den Weg.

Dass Evaristo sich in ihrem Buch dagegen entschieden hat, gängige Grammatik und Rechtschreibung einzuhalten, ist deswegen eine Kritik gegen diese künstliche gesellschaftliche Grenzziehung, die noch immer entscheidet, wer Privilegien in unserer Gesellschaft hat und wer nicht.

“Girl, Women, Other” von Bernadine Evaristo ist ein Buch, das die Geschichten sichtbar macht, die bisher ausgeschlossen wurden und zeigt, wie komplex Privilegien und Benachteiligung tatsächlich sind. Dabei zeigt sie auf, wie unsichtbare Diskriminierungen Leben beeinflussen und wie Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit noch immer Menschen in ihrem Leben einschränken. Dabei hat sie ein unglaubliches Talent darin, facettenreiche Figuren zum Leben zu erwecken und spannende Geschichten zu erzählen. 

“Girl, Women, Other” ist zu Recht ein Must-Read.

  • Autor: Bernadine Evaristo
  • Titel: Girl, Women, Other
  • Verlag: Penguin
  • Erschienen: 2019
  • Einband: Paperback
  • Seiten: 464
  • ISBN: 978-0-241-98499-4
  • Sprache: Englisch, Deutsch
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite 
  • Erwerbsmöglichkeiten


    Wertung: 14/15 dpt


Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share