Anna Nerkagi – Weiße Rentierflechte (Buch)


Alte Traditionen, eigene Lebensziele, Sprachlosigkeit

Weiße Rentierflechte
© Unionsverlag

Vor sieben Jahren sah Petko zum letzten Mal seine Tochter Ilne, die seither weit entfernt lebt. Letztes Jahr starb Petkos Frau, doch selbst zur Beerdigung ihrer Mutter kam Ilne nicht. Darauf hoffte Aljoschka, der sich einst in Ilne verliebte, aber da er inzwischen sechsundzwanzig Jahre zählt, wurde es Zeit für eine Hochzeit. Die Alten haben entschieden wie es seit Jahrhunderten Brauch ist. Eine passende Frau fand Aljoschkas Mutter, allein er liebt diese nicht, was für die Mutter indes kein Problem darstellt.

Der Mensch hat nie für sich allein gelebt. Und auch du brauchst eine Frau! Sie muss nicht schön sein, wenn nur ihre Arme und Beine nicht krumm sind, sie Feuer machen kann, die Fellschuhe trocknen, das Loch im Ärmel flicken. Wenn sie das alles kann, kann man mit ihr zusammenleben.

Herzlich willkommen in der nordsibirischen Tundra beim Volk der Nenzen. Das Nomadenvolk lebt seit jeher in einem Patriarchat, der Mann ist „Familienoberhaupt und Gebieter“ (mit dieser Aussage endet der Roman), doch im heimischen Zelt hat die Frau das Sagen. Und ganz generell halt auch die Gemeinschaft, das war schon immer so.

Erinnerst du dich an den alten Tachanu? Er lebte allein in seinem kleinen Tschum. Das Alter, so sagte er, ist nur dann ein Leben, wenn dich deine Kinder lieben. Lieben sie dich nicht, dann ist das Alter wie ein Sarg, dessen Deckel man vor lauter Hast nicht festgenagelt hat.“
„Schlimme Worte gibst du von dir.

Petko lebt im Tschum (Zelt) seines besten Freundes Wanu und dessen Frau „jenseits des Feuers“, was heißt, dass er kein eigenes Zelt hat. Nach dem Tod seiner Frau brauchte er es nicht mehr. Nun hofft er auf die Rückkehr der Tochter, denn er sieht mehr und mehr, dass er den anderen zur Last fällt. Wanus Frau, die Petkos Teetasse nie voll einschenkt, sieht dies genauso, schließlich ist es die traditionelle Aufgabe der Kinder, sich um die Alten zu kümmern. Derweil denkt Aljoschka ständig an Ilne, seine große Liebe, weit weg, irgendwo. Mit einer anderen will er nichts anfangen, so dass seine Frau unberührt bleibt.

Ob man strauchelt, kriecht oder kraxelt – man muss vorankommen. Der Schlitten des Lebens kann ächzen, in Schieflage geraten, gegen Stock und Stein stoßen, wie auch immer – er muss vorankommen.

Letztendlich sind alle in ihren düsteren Gedanken gefangen. Aljoschkas Mutter, die fest verwurzelt ist mit den uralten Riten ihres Volkes, während ihr Sohn davon träumt, sein eigenes Leben führen zu können. In der kleinen Gemeinschaft, in denen die beiden Dreier-Gruppen (Petko, Wanu und Frau sowie Aljoschka mit Frau und Mutter) in zwei Tschums leben, sollte man Zugeständnisse machen, wenn es nur so einfach wäre.

Das Leben in der Tundra ist rau und entbehrungsreich. Die Nenzen leben von der Rentierzucht, vom Fischfang und der Jagd. Gleichwohl haben sie höchste Achtung beispielsweise vor dem Polarfuchs, dem es nicht selten gelingt, den Köder zu fressen, ohne dass das Schlageisen greift. Dann soll es so sein, schließlich sind alle hungrig. Die sechs Nenzen im Roman (tatsächlich sind heute die meisten Nenzen sesshaft, was nicht nur deren Kultur bedroht) ziehen nach alter Sitte umher, folgen der Spur der Beutetiere. In der Einsamkeit der Tundra passiert nicht viel im harten Alltag, so dass umso mehr Zeit zum Nachdenken und für alte Geschichten bleibt. Auch eine Aussprache mit den anderen ist nie verkehrt, doch will das große, das eine, das richtige Wort gefunden werden.

Erster ins Deutsche übersetzte Roman einer nenzischen Autorin

„Weiße Rentierflechte“ (jene der Sonne im Gegensatz zur schwarzen, der Rentierflechte der Trauer) erzählt auf rund hundertsechzig Seiten eine bewegende Geschichte über die großen Themen: Liebe, Glück, Sehnsucht, Leid, Einsamkeit und davon, was passiert, wenn man in gegensätzlichen Gedankenwelten gefangen ist und diese aufeinanderprallen. Sagen wir so: Jürgen Wiebecke (»Das philosophische Radio« auf WDR5) dürfte das Buch sehr gefallen. Es gibt intensive Einblicke in eine uns völlig fremde Kultur, was man beim Lesen jederzeit präsent haben sollte. Mit unseren Maßstäben einer modernen, offenen Gesellschaft mit einer Natürlichkeit zur Selbstverwirklichung des Einzelnen kann man sich dem Roman beziehungsweise den Nenzen nicht nähern.

In der Geschichte passiert so wenig wie im ständig sich wiederholenden Tagesablauf der Nenzen selbst. Die Endlosschleife, in der die Figuren gedanklich gefangen sind, wirkt daher umso drastischer. Sprachgewaltig stellt uns Anna Nerkagi ihr Volk und dessen Geschichte vor. Ein anspruchsvolles Buch, das man in Ruhe lesen muss. Wer sich für „fremde Völker“ interessiert, kann hier gerne zugreifen, zumal über die kleinen Völker im Norden Russlands, von denen die Nenzen das größte sind, bei uns nur wenig bekannt ist.   

„Weiße Rentierflechte“ der nenzischen Autorin Anna Nerkagi erschien in deutscher Erstausgabe 2021 bei Faber & Faber in gebundener Fassung und enthielt zahlreiche Bilder des brasilianischen Fotografen Sebastião Ribeiro Salgado Júnior, welche in der Taschenbuchausgabe des Unionsverlags nicht enthalten sind. Diese enthält den Roman sowie einen informativen Anhang. Begriffe die im Glossar teils sehr ausführlich erklärt werden, sind – sehr hilfreich – im Romantext halbfett gedruckt, so dass man direkt erfährt, wo sich ein Nachschlagen lohnt.

  • Autorin: Anna Nerkagi
  • Titel: Weiße Rentierflechte
  • Übersetzung: Aus dem Russischen übersetzt von Rolf Junghanns
  • Verlag: Unionsverlag
  • Umfang: 192 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Februar 2024 (Erstausgabe 2021 bei Faber & Faber)
  • ISBN: 978-3-293-20999-2
  • Produktseite


Wertung: 12/15 dpt


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