“Ein simpler Eingriff” ist ein spannendes Buch, weil es subtil gesellschaftliche Normen und die daraus resultierende Pathologisierung (Pathologisierung bedeutet, dass die Identität, der Körper, die Empfindungen, Wahrnehmungen oder Beziehungen einer Person – entgegen der eigenen Wahrnehmung – als “krankhaft” oder “gestört” bezeichnet werden, weil sie von der medizinischen oder gesellschaftlichen Norm abweichen. Pathologisierung (regenbogenportal.de)) von Verhalten und Identität als Teil von psychologischen Behandlungen kritisiert, um mit voller Wucht die daraus resultierenden Konsequenzen zu zeigen.
Der Roman von Yael Inokai wurde 2022 durch den Hanser Verlag veröffentlicht und zeigt, wie die Gesellschaft entscheidet, was als “krank” gilt und wie insbesondere Frauen und marginalisierte Gruppen davon Opfer werden.
Meret ist eine Krankenschwester und wurde von einem Oberarzt ihres Krankenhauses dazu ausgewählt, ihn bei “innovativen” Eingriffen zu unterstützen. Bei diesen Eingriffen handelt es sich effektiv um Lobotomien, bei denen Menschen, welche für psychische Krankheiten, Abhängigkeiten oder “Fehlverhalten” behandelt werden sollen, um wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden zu können. Während Meret versprochen wird, Wissenschaft und Gesellschaft große Dienste zu leisten, hinterfragt ihre Mitbewohnerin Sarah immer bestimmter diese Eingriffe, die besonders eine Personengruppe zu treffen scheinen. Nachdem eine Behandlung an einer wohlhabenden Frau schiefläuft, welche daraus resultierend in ein Koma verfällt, merkt Meret langsam, dass insbesondere Frauen von diesen Behandlungen betroffen sind und sie selbst vor einer nicht allzu langen Zeit aufgrund ihrer Homosexualität behandelt hätte werden können.
Die Geschichte wird durch Merets Tagebucheinträge erzählt, wodurch wir einen intimen Einblick in ihre Lebenswelt und so ihre Gedankenprozesse erhalten und von ihren Konflikten und Sorgen mitgerissen werden. Gerade ihre Beobachtungen über den Alltag im Gesundheitswesen und ihre Liebe zu Sarah tragen das Buch.
“Ein simpler Eingriff” ist weder ein Krimi noch ein Thriller. Es gibt weder einen weiten Spannungsbogen, noch sonderlich aufregende Ereignisse. Trotzdem hat mir die Handlung stellenweise einen Schauer über den Rücken gejagt, in dem nicht nur gezeigt wurde, wie früher (aber auch heute noch) auf “psychische” Erkrankungen geblickt wird und wie krass gesellschaftliche Normen, Werte und Ideale daran beteiligt sind zu entscheiden, wer als krank gilt und wer nicht. So waren Bipolarität und Unproduktivität Grund genug, um in Gehirnen von Menschen herumzuschneiden oder sie unter Medikamente zu setzen, mit dem Gedanken, dass unsere Identität direkt mit der Gehirnphysiologie verbunden sei und psychische Probleme so einfach herausgeschnitten werden könnten. Gerade deswegen bin ich davon begeistert, die Handlung aus der Perspektive einer homosexuellen Frau zu erfahren, die zwar an die Medizin glaubt, aber lernt, dass auch Wissenschaft von der Gesellschaft geformt wird, da historisch gerade Frauen und LSBTIQA+ (Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transgeschlechtlich, Intergeschlechtlich, Queer, Asexuell, Aromantisch) von solchen Eingriffen betroffen waren.
In Zeiten, in denen das Verhalten von Frauen noch immer als hysterisch beschrieben wird, Dating Coaches in ihren Videotutorials erklären, wie man mit psychologischen Spielchen Partner*innen in Beziehungen richtig erziehen kann, transgeschlechtliche Menschen wie auch Homosexuelle, Asexuelle, Aromantische, Intergeschlechtliche, Bisexuelle und queere Menschen insgesamt noch immer (gerade von rechts) ihre Identität als Krankheit abgeschrieben bekommen (und in illegalen Konversionstherapien geheilt werden sollen), Autismus und ADHS als Modekrankheiten abgestempelt und BIPoC von einer umfangreichen Gesundheitsversorgung abgeschnitten werden, ist “Ein simpler Eingriff” nicht nur ein Horrorbuch über unser Gesundheitssystem, sondern zeigt auch, wie subtil Gewalt an den Menschen ausgeübt werden kann, ohne dass sie sich wehren können – alles im Vertrauen in die Gesellschaft, Medizin und Wissenschaft.
“Ein simpler Eingriff” ist kein Buch, das ich für einen Strandurlaub oder als Unterhaltung nebenbei empfehlen kann obwohl es mit kaum 200 Seiten schnell zu lesen ist. Das Buch überzeugt durch Merets Beobachtungen und Gedanken sowie ihre Gespräche mit Sarah, die oft kritisch sind und so zum Nachdenken anregen. Wer sich gerne mit Gesellschaftskritik beschäftigt oder Krankenhausgeschichten mag, wird Freude an dem Buch haben.
- Autor: Yael Inokai
- Titel: Ein simpler Eingriff
- Verlag: Hanser
- Erschienen: 2022
- Einband: Hardcover
- Seiten: 192
- ISBN: 978-3-446-27363-4
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 12/15 dpt