Der booknerds Jahresrückblick 2023 von Sonja


Es ist immer gefährlich, den Begriff Jahresrückblick zu verwenden. Welche Person, welche Fernsehsendung, welche Zeitung darf schon das Recht erheben zu behaupten, einen allumfassenden Blick auf die Dinge zu haben, die in einem Zeitraum von 365 Tagen auf der ganzen Welt geschehen sind?

Daher warne ich euch besser vor: Dies ist ein ganz persönlicher, sehr subjektiver Rückblick auf ein Jahr, das mir literarisch einige Überraschungen geboten hat.

2023 – mir kommt es vor, als wäre es das Jahr, in dem die Durchschnittsseitenzahl von Literatur auf um die 200 Seiten gesunken ist. Besonders beliebtes Coverbild in diesem Jahr – das Freibad. Schwimmbadfliesen, eine Person, die ins Wasser springt, eine Frau im Badeanzug, das Schimmern einer Wasseroberfläche. Hier mussten die Leser*innen auf den Titel achten, um nicht aus Versehen ein Buch zu vertauschen. Der Mix aus Hellblau, Weiß und ein bisschen Rot konnte schon mal verwirrend sein.

Nichtsdestotrotz sind es auch diese Bücher, die im Gedächtnis geblieben sind. Erinnern wir uns an Caro Wahl und ihre „22 Bahnen“ zurück! Was für eine wunderschöne Geschichte! „Das Summen unter der Haut“. Kann junge Liebe zarter beschrieben werden als von Stephan Lohse?

Neben den wunderbaren Sommerromanen, die neben einer jugendlichen Leichte auch melancholische Schwere in sich trugen, ist mir ein weiterer Trend aufgefallen. Immer mehr Autoren setzen sich mit dem Thema „Männlichkeit“ auseinander. Berühmtestes Beispiel dürfte „Vatermal“ von Necati Öziri sein. Darin werden toxische Erwartungen an Söhne thematisiert und reflektiert. Darin werden Eltern kritisiert, aber auch bewundert. Ob Christian Dittloff oder Dincer Gücyeter – alle, die sich diesem lange unangetasteten Bereich annähern, tragen einen Beitrag dazu bei, Rollenklischees aufzubrechen, sie zumindest kritisch zu hinterfragen.

Neben den unzähligen Neuerscheinungen, die es in diesem Jahr in die Buchläden geschafft haben, hat ein ganz besonderes Kind das Licht der Welt erblickt. Ich spreche von einem Podcast. Ein Podcast, der so sympathisch ist, dass man ihn am liebsten dann einschaltet, wenn man mal wieder gute Freundinnen um sich haben möchte. „Zwei Seiten“ von Christine Westermann und Mona Ameziane bereichert in der Navigation durch den Buchdschungel. Hier stellen die beiden Journalistinnen und Autorinnen in jeder Folge zwei Bücher zu einem bestimmten Thema vor. Das, was die Zuhörer*innen erwarten dürfen, sind zwei Perspektiven zu Büchern, die diesmal meinen Wunschzettel ganz allein ausgefüllt haben.

Wer die Frankfurter Buchmesse 2023 verfolgt hat, weiß, dass es ein kleines Skandälchen gab. Denis Scheck saß in der Jury für den Booktok-Award. Berechtigt? Denis Scheck gilt als renommierter Buchkritiker. Für mich persönlich stellt er eine Größe dar, hat er mir mit seinem Kanon eine völlig neue Welt eröffnet, die mir zuvor grau erschien. Doch wie kompetent kann ein Buchkritiker agieren in einem Bereich, der abseits desjenigen liegt, was er gewöhnlich bespricht? Eine weitere Diskussion schloss sich dem an: die Bedeutung von Buchblogger*innen für Verlage, Autor*innen und Buchhandel. Es liegt mir fern, eine Meinung zu diktieren. Ich glaube jedoch, dass jede Stimme, die sich kritisch mit einem Werk auseinandersetzt, berechtigt ist, gehört zu werden. Alles andere würde unsere Freiheit einschränken. Und ist es nicht gerade die Vielfalt, die dafür sorgt, dass wir Sachverhalte aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten können? Auf Bücher bezogen sehe ich vor allem einen großen Vorteil: Erst durch Blogger*innen haben viele hervorragende Werke die Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden. Über 64.000 Bücher erscheinen pro Jahr in Deutschland. Wenige Kritiker*innen allein könnten diese Masse nicht bewältigen. Wie wunderbar ist es, dass nun auch kleinere Verlage, Selfpublisher*innen und unbekannte Autor*innen Sichtbarkeit erlangen!

Apropos Buchkritiker*innen: Ich hatte dieses Jahr das große Vergnügen, Christine Westermann live zu sehen. Die nun 75-jährige Autorin hat aus ihrer Autobiografie „Die Familien der anderen – Mein Leben in Büchern“ vorgelesen. Was für eine tolle Frau! Was so an ihr begeistert, ist, dass sie Bücher vorstellen und kritisch betrachten kann, ohne sie zu vernichten. Westermann nähert sich mit einem so natürlichen Respekt an die Geschichten, dass man gar nicht anders kann, als ihre Worte zu berücksichtigen. Gleichzeitig überzeugt sie mit einem herrlichen Humor und solch einem Appetit auf das Leben, dass es ansteckend wirkt.

Neulich habe ich meinen Mann gefragt, welches Buch er in diesem Jahr am besten fand. Er antwortete mit „22 Bahnen“ und „Der große Sommer“. Aber als er sich seine Liste der gelesenen Bücher angeschaut hat, ist ihm aufgefallen, dass ihm die Antwort doch schwerer fiel, als es auf den ersten Blick schien.

Es war unausweichlich, dass er mir dieselbe Frage stellte. Ich hatte keine Antwort.

Ich habe in diesem Jahr fast neunzig Bücher gelesen. Die Hundert werde ich wohl nicht mehr schaffen. Die Genres waren jedoch so unterschiedlich, dass sie nebeneinander wie die Mischung eines Wahnsinnigen wirken. Literatur liegt neben Fantasy. Sachbuch neben Gay-Romance. Historische Romane neben Heftromanen. Krimis neben klassischer Literatur. Und natürlich durfte die ein oder andere seichte Liebesgeschichte nicht fehlen.

Welche Bücher sind mir davon als besonders in Erinnerung geblieben? Zu viele. Tatsächlich gibt es nur sehr wenige Bücher, die mich enttäuscht haben. Dafür habe ich jedoch wunderbare Autorinnen entdeckt. Charlotte Gneuß, Eske Hicken, Sandra Hoffmann, auch Corina Bomann. Diese Frauen haben mich in wunderbare Welten voller Spannung, Zartheit und auch brutaler Realität mitgenommen. Sie stehen nur beispielhaft für die vielen Künstler*innen, die meine Lesestunden bereichert haben.

Wenn mich mein Mann also nochmal fragen würde, welches mein liebstes Buch 2023 wäre, würde ich antworten: „Siehst du das Regal neben dir? Das müssen wir unbedingt behalten.“

Was wünsche ich mir literarisch für das kommende Jahr?

Eine Frankfurter Buchmesse mit höheren Sicherheitsstandards. Viele neue Folgen von „Zwei Seiten“. Dass bekannte Autor*innen nicht nur wegen ihres Namens gehypt werden, wie es 2023 leider bei dem einen oder anderen den Anschein gemacht hat. Vielfalt. Enttabuisierung, wie sie bereits seit einiger Zeit stattfindet. Romane, die mich weiterhin fesseln und mich trotz der Masse überraschen. Und ein Austausch mit anderen Leser*innen, die genauso Nerd sind wie ich. Booknerds eben.

Frohes Neue Jahr, ihr Lieben!

Eure Sonja


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