Der booknerds Jahresrückblick 2023 von Jochen


Die frommen Wünsche für 2023 blieben das, was sie waren, nicht mehr. Denn 2023 entpuppte sich als bösartiges Geschwisterchen der Jahre zuvor. Noch mehr Krieg, noch mehr noch mehr Einfalt und/oder Niedertracht, die sich lautstark breitmachten, vor allem in den Netzwerken, die unberechtigterweise den Beinamen “sozial” tragen.

Lieber wieder die Zuwendung zum kulturellen Schaffen. Das doch viel Erfreuliches bereithielt. Ob die Krise des Blockbuster-Kinos dazugehört, mag jeder für sich selbst entscheiden. Gut, dass grottige CGI-Orgien, viel zu lange Filme mit den ewig gleichen Abläufen und Finalkämpfen kläglich abstürzen.
Zu den Highlights des Jahres gehörten dafür Dokumentationen von kreativen Köpfen. Giuseppe Tornatores “Ennio Morricone – Der Maestro” (einzige 15 Punkte-Wertung auf Booknerds.de bislang von mir) und “All The Beauty And The Bloodshed” spielen ganz vorne mit.

Der Inhalt von “Ennio Morricone – Der Maestro” erklärt sich von selbst”, “All The Beauty And The Bloodshed” stellt faszinierend die Fotografin Nan Goldin in den Mittelpunkt, die, geprägt vom frühen Selbstmord ihrer älteren Schwester, über eigene Suchterfahrungen mit weiteren Mitstreitern zur engagierten Kämpferin gegen die Machenschaften des Sackler-Clans wird. Einerseits spendable Kunstförderer, andererseits sind die Sacklers Drahtzieher hinter dem riesigen Pharmakonzern Purdue (Herstellung und Vertrieb von Oxycodon), damit maßgeblich mitverantwortlich für die Opioid-Krise in den USA, bei der Oxycodon und seine Ableger für Abhängigkeit und Tod sorgen. Ein hochspannendes, engagiertes Werk, das als Künstler-, Zeitporträt und gesellschaftspolitische Analyse gleichermaßen erhellend funktioniert.

Ganz früh im Jahr gefiel Martin McDonaghs “The Banshees of Inisherin”, diese tieftraurige, ungemein witzige Studie über Aspekte von Freundschaft und Selbstbestimmung, getragen von wunderbar dunklen Bildern, einem sterbensschönen Soundtrack und hervorragenden Darstellern (Brendan Gleeson, Colin Farrell, Kerry Condon etc.).

Im Mainstreamkino machte der von mir wenig geschätzte Tom Cruise und seine Mission Impossible-Rasselbande viel Spaß. Ich mag den Scientology-Jünger Cruise zwar überhaupt nicht, erkenne aber neidlos an, dass M.I. seit Jahren dem James Bond-Franchise den Rang abgelaufen hat. “Mission: Impossible 7 – Dead Reckoning Teil Eins” hat souveräne Action zu bieten, ein paar gar nicht dumme Gedanken und Bilder zu lückenloser Überwachung, K.I., Masken und Menschen fallen ebenfalls ab. Zwar ist der Film – wie nahezu jeder Blockbuster der letzten Jahre – um gut eine halbe Stunde zu lang und wird erst 2025 (wahrscheinlich) vom zweiten Teil vervollständigt. Unterhaltsam war es dennoch, aber an der Kinokasse kam es nicht gut an. “Mission Impossible” entpuppte sich als veritabler Flop. Nicht so schlimm wie die diesjährigen MCU und DC-Gurken oder der gebrechliche Indiana Jones, dem übel mitgespielt wurde. Qualitativ zudem auf einem anderen Level.

“Auf dem Weg” ist ein visuell und darstellerisch (Jean Dujardin!) bestechender Film, gerade für Menschen, die Bezug zum Wandern haben. Unaufgeregt, aufs Wesentliche konzentriert und glücklicherweise nicht zu messianisch im “Back to he roots”-Gestus unterwegs, gefällt “Auf dem Weg” als filmische Meditation. Genau das Richtige zum Ausgang eines vor Aufgeregtheit berstenden Jahres.
Sehr gut gefallen haben auch David Finchers “The Killer”, das Vorort-ist-die-Hölle-Horrorflic “Barbarian” Und ja, ich habe viel Spaß an der bonbonbunten “Barbie” gehabt.

Leider bislang noch nicht “Godzilla – Minus One” gesehen, dessen Lob ihm vorauseilt. Ebenso warten noch Brandon Cronenbergs “Infinity Pool” und Martin Scorseses “Killers Of The Flower Moon” auf Begutachtung. Von allen dreien Filmen verspreche ich mir viel. “John Wick 4” habe ich mir aufgespart, bis ich mal viele Mußestunden habe.

Im Fernsehen schloss Mike Flanagan mit seiner gelungenen und adäquat in die Gegenwart versetzten Edgar Allan Poe-Hommage “Der Untergang des Hauses Usher” (“The Fall Of The House Of Usher”) an die Höhen seiner beiden “Spuk in…”- Serien an. Mit dem öden moraltheologischen Grundkurs (für Menschen, die noch nie etwas von Vampiren gehört haben) “Midnight Mass” konnte ich wenig anfangen.
“Sex Education” schwächelte zwar in der finalen Staffel, blieb aber dennoch ansehnlich und verabschiedete sich mit zwei herzerwärmenden Finalfolgen.

Die volle Breitseite gab es bei Gareth Evans‘ nachtschwarzem Gangster-Moratorium “Gangs Of London”. Finster, derbe brutal und sehr, sehr gut, wobei die zweite Staffel gegenüber dem herausragenden Start etwas abfiel, aber weiterhin von brachialer Wucht war.

Gleich früh im Jahr war Nicoals Winding Refns “Copenhagen Cowboy” ein extravaganter Noir-Trip, visuell berauschend, musikalisch wie gewohnt stimmungsvoll, gegenüber Refns Vorgängerserie “Too Old To Die Young geradezu fast & furious. Also immer noch sehr, sehr langsam. Not everybody‘s darling, meins schon.

“Daisy Jones And The Six” lehnt sich lose an die Biographie Carole Kings an und mixt sie heftig mit der Geschichte Fleetwood Macs, um daraus eine eigene Storyline um Aufstieg und Fall einer Band zu machen. Viel 70er-Jahre-Mucke, die auch in der nachgemachten Variante überzeugt (Riley Keough und Sam Claflin singen selbst). Das ist ein bisschen kritisch, ein bisschen nostalgisch, ein bisschen ironisch und vor allem unheimlich unterhaltsam. Geschichten von unterwegs aus dem Rock’n’Roll-Zirkus, der sein Zelt mittlerweile abgebaut hat. Besonders lobende Erwähnung für Suki Waterhouse als Keyboarderin Karen Sirko und die gelegentlichen Auftritte des immer sehenswerten Timothy Olyphant, der zudem dieses Jahr ein ansprechendes “Justified”-Sequel abfeiern durfte. Raylan Givens rulez. Immer noch und wieder.

Die meistgeliebte Serie des Jahres stammt aus 2018 und 2021, die thailändische Wundertüte “The Girl From Nowhere” (nicht verwechseln mit dem feinen B-Movie-Song “Nowhere Girl”). Faszinierende Bilder, klasse Soundtrack und eine konsequent finstere wie surreal-komische Abrechnung mit einer Gesellschaft im Zerfall. Hinterfragen (a)moralischer Systeme und Werte inklusive. Chicha Amatayakul als Nanno und Chanya McClory als Antagonistin Yuri sind fantastisch und als Schulmädchen in Uniform verdammt gefährlich. Das einzig Frustrierende: Wo bleibt Staffel drei?

Zum Jahresende durfte “Reacher” dann die Fernsehlandschaft in Cowboy-Manier zum zweiten Mal aufmischen. Recht so. Alan Ritchson nimmt man Lee Childs lonesome Drifter anstandslos ab. Die reine Freude für jeden, der unter Tom Cruise in viel zu großen Militärstiefeln gelitten hat.

Während Lee Child das literarische Vorbild mittlerweile an seinen Bruder abgegeben hat, schickt James Lee Burke seinen Dave Robicheaux (vorerst) in den Ruhestand. “Verschwinden ist keine Lösung” ist eine phantasmagorische Apokalypse, in der die Grenzen zwischen Realität und Traumphantastik fluide sind. Der große Humanist Robicheaux und sein moralisch integrer Kumpel Clete Purcell bringen die Ursuppe des Bösen zum Kochen. Nachwort von yours truly. Dave Robicheaux bleibt uns aber erhalten, taucht er doch demnächst in einem Roman aus Purcells Sicht als wichtige Nebenfigur auf. James Lee Burke ist ein arbeitsamer Fuchs.

Der Autor ist ob seiner kruden politischen Ansichten sehr umstritten, sein Buch ist es nicht. A.D.G.s “Die Nacht der kranken Hunde” ist eine Wiederveröffentlichung, die jeden Cent wert ist. Der Roman hat 50 Jahre auf dem Buckel, ist aber stilistisch und inhaltlich kaum gealtert. A.D.G. ist ein Meister der Verknappung und “Die Nacht der kranken Hunde” ist ein fabulöser, französischer Country-Noir mit ganz eigener Erzählweise.

Das Jahr startete furios mit Bret Easton Ellis‘ eigenwilligem Coming-Of-Age-Roman “The Shards”. Die Fake-Autobiographie zeigt den jungen Bret Easton Ellis, der sich mit einer Reihe von Todesfällen in seiner unmittelbaren Nähe konfrontiert sieht. “The Shards” ist ein scharfzüngiges Psychogramm, eine Zeitreise in die 80er mit vielen musikalischen Verweisen (ICEHOUSE!) und ein Spiel mit der Kunst des (unzuverlässigen) Erzählens. Nichts ist es wie es scheint und Schein ist doch – gerade in den 80ern – alles.

Weitere Highlights waren Yves Raveys “Taormina”, das nicht nur eine absurd komische und spannende Geschichte von dunklen Stunden am helllichten Tag, sondern auch ein sarkastischer Kommentar zum herrschenden Zeitgeist ist. A. F. Baxters “Die Höfe” stellt zwei starke Frauenfiguren in den Fokus. Ein cooler Kriminalroman, aber auch eine Zustandsbeschreibung vom Verfall der Arbeitswelt und -beziehungen, angesiedelt im Rust Belt und doch weit darüber hinaus.

Schön auch, dass James Graham Ballards Dystopien “Dürre” und “Flut” 2023 im Diaphanes-Verlag wiederveröffentlicht wurden. Wegweisende Bücher, aktuell wie selten zuvor. James Graham Ballard ist ein großer Autor, den ich Euch mit all seinen Werken nur wärmstens ans Herz legen kann. Die verdienstvolle Diaphanes-Reihe, die 2016 mit “High-Rise” startete, bietet sich zum Komplettkauf an.

Im Dezember nach Jahren der Abstinenz mit “Holly” wieder einen Stephen King-Roman begonnen. Der erste Eindruck: Auf den integren Mann ist Verlass. Leider kam mir Eric Pfeil mit “Azzurro” dazwischen, und der launige, informative Abriss über die Essenz der italienischen Popmusik musste vorgezogen werden. So habe ich erfahren, dass Fabrizio de André gemeinsam mit Premata Forneria Marconi oder kurz PFM diverse Alben aufgenommen hat. Besonders die Live-Mitschnitte sind große Kunst. Haben zwar schon ein paar Jahre auf dem Buckel, sind aber definitiv empfehlenswert. PFM alleine sind weiterhin aktiv und haben mit “The Event – Live in Lugano” aktuell ein exzellentes Album am Start.

Musikalisch hatte 2023 einiges zu bieten. Die Konzerte von Achim Reichel, Heaven 17, Luka Bloom, Peter Gabriel und Madrugada waren allesamt, auf ganz unterschiedliche Art, begeisternd. Besonderes Highlight war, dass Heaven 17 im selben Hotel wie wir in Oldenburg abgestiegen waren und sich als sehr angenehme und begeisterungsfähige Zeitgenossen entpuppten. Ein Frühstück mir Martyn Ware und Glenn Gregory kann ich nur jedem empfehlen.

Steven Wilson hat mit “The Harmony Codex” einen hörenswerten Grenzgang zwischen Progressive Rock, Jazz und Pop veröffentlicht. Hartnäckige Prog-Aficionados, die sich die x-te Wiederbelebung von “Hand. Cannot. Erase.” (das meinereiner gar nicht so sehr schätzt) wünschen sind unglücklich. Wer sich zwischen Abba und Art Rock wohlfühlt, darf sich freuen. Wer klassisch orientierten Prog genießen möchte, findet mit Marek Arnolds Art Rock Project seine Wohlfühloase. Mit oder ohne Einhörner.
Bleiben wir beim Genre und dem Überschreiten seiner Grenzen. Peter Gabriel hat mit i/o nach 21 Jahren ein neues Studioalbum herausgebracht. Keine musikalische Revolution, eher die Erfüllung des eigenen hohen Standards. Die neuen Songs funktionierten im Konzert bereits tadellos.

Auffällig, neben der Wiederkehr der großen Alten (auch die Rolling Stones hatten nach nur 18 Jahren ein neues Album im Gepäck), ist die Flut von remasterten, remixten, rekonstruierten Reissues. Die Beatles hatten dank K.I. sogar einen neuen Song am Start, der die um etliche Tracks erweiterte Wiederveröffentlichung des “roten” und “blauen” Albums begleitete. Von Frank Zappa erlebte “Over-Nite Sensation” sein 50th anniversary in unterschiedlichen Formen, Camel brachten gar das mit 24 CDs und 2 BluRays bestückte “Air “heraus.

Nur drei Veröffentlichungen von vielen Weiteren. Interessant, dass sie allesamt, in diesen von Tonträger-Agnostikern beherrschten Zeiten, recht kostspielig waren und sind. Fürs Geld ausgeben ist die ansonsten gern geschmähte Zielgruppe der Boomer immerhin gut zu gebrauchen.
Neu und toll war Anohni & The Johnsons vielsagendes Opus “My Back Was A Bridge For You To Cross”. Ebenso grandios die im August 2022 unerwartet verstorbene Trompeterin und Sängerin Jaimie Branch mit dem hypnotischen Jazz von “Fly Or Die Fly Or Die Fly Or Die1”.

John Cale kehrte mit dem produktionstechnisch etwas überladenen, dennoch faszinierenden “Mercy” zurück. Van Der Graaf Generator wiederum belegten mit dem intensiven Querschnitt “The Bath Forum Concert”, dass sie Live im 21. Jahrhundert immer noch eine Macht sind, auch wenn Peter Hammill kurz nach Veröffentlichung der Gesundheit wegen eine Konzertpause einlegen musste.

Lana Del Rey zeigte mit “Did You Know That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd”, dass sie sich gut als David Lynchs Ziehtochter machen würde, das Søren Bebe Trio spieltet mit “Here Now” wieder wunderbar smoothen Jazz ohne Weichspüler-Ästhetik ein, während Timber Timbre mit “Lovage”, leider bei nur rund 35 Minuten Lauflänge, für perfekte Mitternachtsmusik sorgen, stellenweise burlesk mit Beatles- und Leonard Cohen-Bezügen.

Unglaublich viel Spaß machte “Reizüberflutung” von SAFE, das Projekt des deutschen Gitarristen Julian Scarcella. Dem Titel entsprechend wurde gekonnt und ansatzlos zwischen Jazz, Rock, Metal (inklusive Growls!), Klassik, Funk, Flamenco, Chanson und Kaffeehausständchen hin und her switcht ohne je auseinanderzufallen.

Ein kleines Wunderwerk ist Steven Mercurios und The Czech National Symphonys Einspielung von Antonín Dvoráks Symphony No. 9 “New World Symphony” (“Aus der neuen Welt”). Klanglich State Of The Art entlockt die Aufnahme dem oft gespielten Werk feine, wie neu wirkende Nuancen, lässt es atmosphärisch und spieltechnisch frisch schimmern.

Wie üblich nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was mir im Jahr 2023 sehr gut gefallen hat, was man vom öffentlichen Leben nicht so sagen kann. Zu viel Dumpfheit, Nationalismus, religiöser Fundamentalismus, Fanatismus insgesamt dort draußen. “Hold Your Head Up” kann man nur mit Argent wünschen, denen ich im vergangenen Jahr ebenfalls eine Renaissance gegönnt habe. Vorher die einzigen Zombies, mit denen man gerne die Apokalypse verbringen würde.


  1. world war []
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