Mit Informationen für mehr Toleranz
Laut Wikipedia definiert „Normalität“ in der Soziologie „das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss.“ Eine Erklärung, die sich aus sich selbst heraus erklärt. Vereinfacht klingt das dann etwa so: Normal ist halt, was normal ist.
Umso wichtiger unsere Vorstellung von „normal“ einmal unter die Lupe zu nehmen. Denn es gibt so viel mehr als das vermeintlich „normale“ und in einer Gruppe, in der andere Regeln, andere Weltbilder oder andere „Normen“ gelten, ist dann auch schnell mal etwas anderes „normal.
Besonders wenn es um Sexualpraktiken oder sexuelle Vorlieben geht, werden Begriffe wie „abnorm“ oder „pervers“ schnell zur Hand genommen, was dazu führt, dass die betroffenen Personen gesellschaftlich stigmatisiert werden.
Mönning gestaltet den Einstieg in ihr Sachbuch zunächst einmal sehr persönlich. Ausgangspunkt ist ein Ereignis, mit dem sich die Autorin vor einigen Jahren selbst unbeabsichtigt in die Schlagzeilen brachte. Auf einem Autobahnrastplatz strippte die bekennende Exhibitionistin aus purem Vergnügen vor fremden Männern, die sich als Zivilpolizisten entpuppten. Kurz darauf erreichte sie eine Anzeige wegen öffentlicher Unsittlichkeit, die in einer Gerichtsverhandlung mit anschließender Bußgeldbestrafung mündete. Ihr Verhalten wurde als nicht normal sanktioniert.
Ganz autobiografisch schildert sie im ersten Teil des Buches ihre eigenen Erfahrungen als Kind und Heranwachsende ebenso wie die Entdeckung ihrer exhibistionistischen Neigung. Auffallend ist an ihrer Darstellung vorallem, dass eigentlich nichts wirklich besonders auffallend ist. Mönning beschreibt eine ziemlich durchschnittliche Kindheit mit Erlebnissen, wie sie die meisten Leser:innen der gleichen Generation mit ihr teilen dürften. Der gemeinsame Nenner: Die Einordnung dessen, was man als normal oder nicht normal betrachtet, wird immer wieder von außen festgelegt.
Im Zweiten und umfangreicheren Teil lässt die Autorin andere zu Wort kommen. Kapitelweise stellt sie in Interviews mit Betroffenen verschiedene Ausrichtungen menschlicher Sexualität vor. Zu Wort kommen u. a. ein Camgirl, Pornodarsteller:innen, Sexarbeiterinnen, Menschen mit unterschiedlichen Fetischen, Menschen in offenen Beziehungen u. v. m. Es entsteht ein sehr vielschichtiges Bild von dem, was Sexualität alles sein kann und wie normal sich diese unterschiedlichen Formen der Sexualität für die jeweiligen Personen anfühlen.
Mönning ist in ihren Interviews eine offene Gesprächspartnerin, die auch an Tabu-Fragen rührt und sich um einen kritischen Blick hinter manche Kulisse bemüht. Dass dabei nicht alle Fragen abschließend beantwortet werden können, liegt in der Natur der Sache. Manche der angestossenen Themen laden dazu ein, kontrovers diskutiert zu werden. Doch – und genau das zeigt Mönnings Buch sehr deutlich – die Diskussion sollte immer mit den Betroffenen stattfinden und nicht – wie leider oft üblich – über deren Köpfe hinweg geführt werden.
Mönning schmückt ihre Ausführungen mit zahlreichen erotischen Fotografien, in denen sie sich selbst in Szene setzt und die angesprochenen Themenfelder begleitet. Für alle Leser:innen, die das Buch mit einem voyeuristischen Interesse in die Hand nehmen, stellen die ästhetischen Abbildungen sicher einen Mehrwert dar. Um Inhalt und Aussage des Buches zu unterstützen, braucht es diese Bilder allerdings nicht. Vielleicht wäre es sogar noch besser gewesen, Fotografien der Interviewten in das Buch aufzunehmen, um diesen Personen nicht nur eine Stimme sondern auch ein Gesicht zu geben.
Alles in allem ist Mönnings Sachbuch eine Einladung dazu, den Begriff „Normalität“ zu hinterfragen und insgesamt offener zu definieren. Der Umgang mit Sexualität ist ein Indiz für die Toleranzfähigkeit einer Gesellschaft und damit auch ein wichtiger Richtwert, der Aufschluss über die innere Stärke einer freiheitlichen Demokratie gibt. Es ist quasi unmöglich das Thema Sexualität zu betrachten ohne andere gesellschaftliche Themen einzubeziehen. Immer geht es auch um Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, die Definition von Geschlecht, um traditionelle Rollenbilder, den Umgang mit Geschlechterklischees, patriarchale Strukturen, Feminismus und vieles mehr.
Wie brisant viele dieser Themen sind, zeigen die von Mönning zitierten Beispiele: Die Angst, für die eigene Veranlagung gesellschaftlich geächtet zu werden, ist für viele Menschen real und belastend.
Mönnings Buch lädt ein, bestehende Normen in Frage zu stellen, um zu mehr Toleranz zu gelangen.
- Autorin: Antje Nikola Mönning
- Titel: Nicht normal” ist ganz normal: Liebe und Sex in doppelmoralischen Zeiten
- Verlag: wtp-Verlag
- Erschienen: April 2023
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 368 Seiten
- ISBN: 978-3910480087
Wertung: 11/15 dpt