Mörderisches Island
An einem abgelegenen Fjord haben sich Ása und Reynir ein auffällig protziges Haus gebaut, welches durch einen Verbindungsgang mit dem alten Bauernhof namens Hvarf vereint ist. Dort wohnen junge Hausangestellte, die sich um Hof, Tiere und nicht zuletzt die Familie kümmern, zu denen noch die fünfzehnjährige Iris und die achtjährige Gigja gehören. Die ersten beiden Aushilfen, Berglind und Alvar, hielten jedoch nur kurze Zeit durch. Jetzt soll sich die junge Studentin Sóldis kümmern, die die Flucht vor ihrem Ex-Freund Jónsi in die Einsamkeit verschlagen hat. Schon bald beginnen jedoch seltsame Geschehnisse die Idylle zu trüben. Türen stehen plötzlich offen, Gegenstände verschwinden und auch die Ehe zwischen Ása und Reynir scheint alles andere als glücklich.
Karl, der Bauer des Nachbarhofes von Hvarf, ist beunruhigt. Seit Tagen hat er nichts mehr von seinen Nachbarn gehört. Wären sie für einige Tage weggefahren, hätten sie ihm und seiner Frau Ella Bescheid gegeben, damit man sich um die Tiere kümmert. Auch ein Friseurtermin bei Ella ließen sie verstreichen, ohne sich abzumelden. Als Karl das Anwesen erneut aufsucht, macht er eine grausame Entdeckung.
Für Hvarf und Umgebung ist eigentlich die Polizei Vesturland, genauer die Kripo von Akranes zuständig, deren Chef Hördur mit Elma und Saevar die Ermittlungen übernimmt, allerdings sofort Unterstützung aus Reykjavik anfordert. Von dort eilen Týr, Karó und Rechtsmedizinerin Iðunn zur Hilfe, wobei sie ebenfalls das Entsetzen packt. Vier brutal entstellte Leichen, allein vom Vater fehlt jede Spur. Ein klassisches Familiendrama? Zahlreiche Ungereimtheiten lassen nicht lange auf sich warten. Weitere Leichen auch nicht.
Auftakt zu einer neuen Serie?
Isländische Krimis sind aktuell, es mag der Jahreszeit geschuldet sein, angesagt, wie die Hildur-Trilogie von Satu Rämö und die Elma-Trilogie von Ava Björg Ægisdóttir belegen. Von letztgenannter Autorin hat sich Yrsa Sigurdardottir gleich mal „Personal ausgeliehen“, nämlich die Ermittler aus Akranes; Elma, Hördur und Saevar, die im vorliegenden Fall in Nebenrollen mitwirken.
Wie schon der letzte Thriller „Schnee“ ist „Nacht“ ein Stand-alone, wobei der letzte Satz des Romans eine Fortsetzung eindeutig nicht ausschließt, sondern vielmehr einen großen Spoiler für eine solche enthält. Und, ja, es wäre schön, die hier handelnden Figuren wie Týr, Iðunn und nicht zuletzt die dunkelhäutige Karó, die, obwohl Isländerin, ständig wie eine Ausländerin auf Englisch angesprochen wird.
Der Plot soll nicht weiter groß dargestellt werden. Auf einem einsam gelegenen Anwesen kommt es zu einem Vierfachmord, bei dem vieles auf den Vater als Mörder hindeutet. Die Eltern, schwerreich, leben äußerst zurückgezogen und haben wenig Kontakt zur Außenwelt. Mit Karl und Ella sind sie so etwas wie „befreundet“, der nächste Nachbar Einar Ari Arason gilt hingegen als „Feind“. Darunter leidet auch die älteste Tochter Iris, die mit dessen Sohn gerne näher befreundet wäre; nicht zuletzt mangels Alternativen.
Gekonnt spielt die Erfolgsautorin mit klassischen Horror-Elementen und erzählt die Geschichte aus zwei Perspektiven. Da ist Týr, der die aktuellen Ermittlungen vor Ort maßgeblich unterstützt, selber entscheiden darf er mangels Zuständigkeit ja nicht, und da ist die Haushaltshilfe Sóldis, die schildert, wie die Situation in den vergangenen Tagen zunehmend eskalierte. Es gibt (zunächst) vier Opfer und nur einen ernst zu nehmenden Verdächtigen. Viel mehr Verdächtige werden nicht hinzukommen, da das Personaltableau insgesamt überschaubar bleibt. Und gleichwohl nur gefühlt ein Dutzend Figuren mitspielen, gelingt es Yrsa Sigurdardottir einmal mehr mit Leichtigkeit, ihre führende Position unter den isländischen Krimiautoren zu behaupten. Es muss allerdings betont werden, dass die Trilogien von Rämö und Ægisdóttir – nicht nur für Islandfans – ebenfalls lesenswert sind.
In diesem Sinne kann der Winter kommen. Wir von booknerds wünschen eiskalte Spannung!
- Autorin: Yrsa Sigurdardóttir
- Titel: Nacht
- Originaltitel: Lok lok og laes. Aus dem Isländischen von Anika Wolff
- Verlag: btb
- Umfang: 432 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: August 2023
- ISBN: 978-3-442-76241-5
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Wertung: 12/15 dpt