Facettenreicher Kriminalroman aus den 1920er Jahren
März 1924. Hugo Stinnes, einflussreicher Unternehmer aus dem Ruhrgebiet, will die Frachtschifffahrt in Ostpreußen an sich reißen. Friedrich Mayrhöfer, der seit vielen Jahren die Geschicke der Königsberger Reeder leitet, stellt sich dem entgegen und lässt von seinem Sohn Edward einen verheißungsvollen Plan entwickeln. Mit geeinter Macht sollen sich die schwächelnden Reeder zusammenschließen, um die Expansion von Stinnes zu verhindern. Gekämpft wird mit harten Bandagen und nur wenige Tage nach einer Versammlung der Reeder wird Edward, der sich am Abend mit Freunden im „Blutgericht“, einer Schankstube im Schlosshof, traf, auf dem Heimweg ermordet. An einer Wand sind hebräische Zeichen zu sehen, worauf die völkische „Großdeutsche Zeitung“ über einen jüdischen Ritualmord hetzt.
Königsberg ist im Aufruhr, denn in wenigen Wochen ist die große Stadtfeier anlässlich des 200. Geburtstages von Immanuel Kant, dem bekanntesten Sohn der Stadt. Zudem haben sich namhafte Politiker angekündigt, um Reden vor den anstehenden Reichstagswahlen zu halten, während einem gewissen Adolf Hitler nach einem missglückten Putsch in München der Prozess gemacht wird. Hilfe muss her und so fordert man Aaron Singer an; einziger jüdischer Kommissar in Berlin. Der ist wenig begeistert in der Provinz arbeiten zu müssen, ist er doch ein aufstrebender Mann beim legendären Ernst Gennat.
Kommissar Heinrich Puschkat von der Königsberger Kripo ist ebenfalls wenig begeistert von der Hilfe aus der Großstadt, doch viel Zeit zum Jammern bleibt beiden nicht, denn schon bald geraten sie in eine atemberaubende Mordserie. Führt die Spur tatsächlich in die Machtkämpfe zwischen großen Reedereien? Vieles spricht dafür, allerdings passen hierzu die hebräischen Schriftzeichen nicht wirklich, wobei sie auch für sich allein genommen keinen Sinn ergeben. Da ein weiteres Mordopfer aus der „Blutgerichtsrunde“ stammt, geraten Edwards Freunde in den Fokus der Ermittlungen, während Singer zunehmend das Königsberger Nachtleben und vor allem den Nachtclub „Bel Ami“ zu schätzen lernt; letzteres wegen der bezaubernden Nackttänzerin Ella.
Jüdischer Kommissar in spannungsgeladenen Umfeld
Bemerkenswert: „Die Toten von Königsberg“ ist ein Debütroman! Geschrieben von Ralf Thiesen, der hauptberuflich für einen Standortdienstleister tätig ist, was womöglich sein Interesse für die ostpreußische Handelsschifffahrt erklärt. Die Einblicke in die Geschäftswelt, die gehobene Gesellschaft, die sich nur ungern in die Karten blicken lässt und Angelegenheiten gern untereinander regelt, führen Singer und Puschkat schnell an ihre Grenzen. Während man in Berlin moderne Ermittlungsansätze, dank Gennat, anwendet, gilt es in der Provinz eher, niemand der höheren Herrschaften auf die Füße zu treten. Die Machtverhältnisse sind hier noch anders. Die besagte Runde aus dem „Blutgericht“ besteht aus jungen Männern aus besten Häusern, die darauf warten, dass die älteren Herren den Familienbetrieb und den damit verbundenen Einfluss übergeben.
Die Stadt Königsberg wird bildgewaltig und lebendig beschrieben, ebenso wie das Nachtleben in Form des Amüsierclubs „Bel Ami“. Zwielichtige Gestalten dürfen nicht fehlen und da Aaron Singer ein jüdischer Kommissar ist, darf natürlich dieses Thema auch nicht fehlen. Völkische Kreise versuchen Fuß zu fassen, wenngleich ihr Führer in Haft sitzt. Gegen Juden hetzen kann man ja trotzdem, während sich die seriöse Presse zurückhält. Durch Ella kommt eine wohlproportionierte Brise Erotik in die Geschichte, die sich ansonsten streng am aufzuklärenden Fall orienteiert, der von Ralf Thiesen geschickt vorgetragen wird. Man glaubt die Hintergründe zu erahnen, bemerkt zur „Halbzeit“, dass man vermutlich falsch liegt und wird im weiteren Verlauf erneut in die Irre geführt. Jedenfalls könnte es einem so ergehen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass man hier in Gänze durchblickt ist begrenzt.
„Die Toten von Königsberg“ ist ein spannender, abwechslungsreicher Kriminalroman, der vermutlich weitere Folgen erwarten lässt. Ein fetter Cliffhanger am Ende des Romans spricht ebenso dafür wie der Aufdruck auf der Buchrückseite, bei dem es „… erste Fall für Aaron Singer“ heißt. Der keineswegs unsympathische Protagonist ist erst Mitte dreißig, die Handlung spielt im März 1924 und so liegen politisch ereignisreiche Jahre vor ihm. Sei es in Königsberg oder in Berlin an der Seite vom „Buddha“ Ernst Gennat.
Autor: Ralf Thiesen
Titel: Die Toten von Königsberg
Verlag: Goldmann
Umfang: 528 Seiten
Einband: Taschenbuch
Erschienen: Dezember 2023
ISBN: 978-3-442-49256-5
Wertung: 12/15 dpt