791 km (Kino)


Das Taxi als Mikrokosmos

Roadstories sind ein beliebtes Genre, denn sie dienen gerne als perfekte Metapher fürs Leben. Eine zufällig zusammengewürfelte Reise-Gemeinschaft sitzt plötzlich unerwartet im sprichwörtlich selben Boot, oder wie hier im selben Taxi – so auch in „791 Kilometer“, dem neuen Film von Tobi Baumann.

791 Kilometer beträgt die Entfernung zwischen München und Hamburg, eine Strecke, die die fünf Protagonisten des Films aus völlig unterschiedlichen Motiven dringend zurücklegen wollen.

Die Ausgangssituation ist konstruiert, aber nicht unrealistisch. Bei der Bahn geht mal wieder gar nichts. Ein Sturm hat den Schienenverkehr bundesweit zum Erliegen gebracht. Schade ist nur, dass von besagtem Sturm im Laufe des Filmes rein gar nichts mehr zu spüren ist. Das Taxi gleitet mühelos über die nächtliche Autobahn. Kein einziger Regentropfen trübt die Sicht durch die Windschutzscheibe, keine einzige Böe erschüttert die Fahrgastzelle, das Setting wirkt dadurch leider ein wenig wie die künstlich erzeugte Studiokulisse, die es in Wahrheit auch ist.

Dass die kammerspielartige Enge des Taxis trotzdem zur glaubhaften Bühne wird, verdankt der Film den durchgängig hochklassig agierenden Darsteller:innen, die dieses Manko zur Randerscheinung werden lassen.

So nehmen im Taxi des grantelnden Fahrers Joseph (Joachim Król) die Alt-68erin Marianne (Iris Berben), die verbissene Karrierefrau Tiana (Nilam Farooq) und ihr liebenswert lässiger Lebensgefährte Philipp (Ben Münchow) sowie die kindlich-naive Susi (Lena Urzendowsky) Platz.

Auf den ersten Blick vereint diese Gruppe alle Gegensätze, die die deutsche Gesellschaft aktuell zu bieten hat. Kaum ein Thema, das der Drehbuchautor Gernot Gricksch nicht in die folgenden Dialoge geschrieben hat. In munterer Abfolge werden Klimaproteste, Alltagsrassismus, Migration, Cancel-Culture, Life-Work-Balance, Generationenkonflikte, Globalismus und einiges mehr verhandelt. Man streitet, mal mehr, mal weniger humorvoll, doch die Enge des gemeinsamen Reisegefährts lässt keinem am Ende eine Wahl. Man bleibt aufeinander angewiesen.

Die Botschaft dahinter ist deutlich. Es gibt kein klares Schwarz oder Weiß. Es lohnt sich zuzuhören und hinter die Fassaden zu blicken. Verständnis und Miteinander sind trotz großer Gegensätze möglich.

Baumann macht in seinem Film die Geschichten hinter den Menschen sichtbar. So kommt im Taxi jede und jeder an die Reihe. Die erzählerische Spannung resultiert aus der sukzessiven Aufdeckung dieser persönlichen Geheimnisse. Komödie und Tragödie stehen dabei zu jeder Zeit im ausgewogenen Verhältnis zueinander, wobei das Menschliche immer im Mittelpunkt steht. Nie überdeckt der Humor die Tragik der einzelnen Schicksale.

Dass der Film dabei ausgerechnet die Figur der geistig eingeschränkten Susi zum Katalysator macht, hat durchaus erzählerische Tradition. Die vermeindliche Narrin ist in ihrer Naivität die wahre Weise, die ausspricht, was allen anderen in ihrer verkomplizierten Selbstbezogenheit verborgen bleibt. Lena Urzendowsky verleiht dieser Schlüsselfigur ein anrührendes Antlitz. An ihr liegt es nicht, dass Susis Rolle eine Spur zu stark idealisiert erscheint, um realistisch zu wirken.

Am Ende bleibt der Film ein wenig hinter seinem eigenen Anspruch zurück. Alles wird irgendwie aufgelöst, die gezeigten Gegensätze verlieren ihre Schärfe. Das ist gut gemeint, wirkt jedoch, als ob man dem Publikum zeigen müsste, wie es geht, ohne es selbst drauf kommen zu lassen.

Doch vielleicht braucht es ja gerade diese Überdeutlichkeit in Zeiten, in denen sich die Menschen immer unnachgiebiger hinter ihren eigenen Positionen verschanzen.

  • Titel: 791 km
  • Genre: Roadstory
  • Kinostart: 14.12.2023
  • Label: PANTALEON Films und ProU Producers United Film
  • Spielzeit: 103 Minuten
  • Regie:  Tobi Baumann
  • Drehbuch:  Gernot Gricksch
  • Schnitt: Jochen Donauer (BFS)
  • Musik: Tobias Kuhn, Philipp Steinke
  • FSK: 0


Wertung: 10/15 dpt

 

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