Muna, gerade mal 18 geworden, verliebt sich Hals über Kopf in Magnus, einen Gymnasiallehrer. Obwohl Magnus die junge Frau bei jeder Gelegenheit schroff abkanzelt, lässt die Verliebte nicht locker. Ihre Schwärmerei schmeichelt ihm. Denn Muna ist hübsch und klug. Es kommt tatsächlich zu einer Liebesnacht. Während Muna diese Annäherung als Bestätigung empfindet, ist für alle anderen, die Leser:innen eingeschlossen, klar, dass Magnus der Affäre keine besondere Bedeutung beimisst. Die Historie führt das Schicksal beider Lebenswege zunächst auseinander: Die Mauer fällt, Magnus setzt sich ohne Abschied in den Westen ab. Hier könnte die Geschichte bereits zu Ende sein. Doch Munas Zuneigung bleibt ungebrochen, im Gegenteil, ihre Schwärmerei verfestigt sich und als die beiden sich nach zehn Jahren zufällig wieder begegnen und setzt Muna alles daran, Magnus für sich zu gewinnen. Die beiden werden ein Paar.
Man ahnt, eine solche Beziehung kann nicht gut werden. Denn Magnus bleibt distanziert. Je mehr Muna sich um Nähe bemüht, desto vehementer hält Magnus sie auf Abstand. Die toxische Spirale aus psychischer Grausamkeit und später sogar körperlicher Gewalt auf der einen Seite und obsessiver Selbsterniedrigung und emotionaler Abhängigkeit auf der anderen Seite, beginnt sich immer schneller zu drehen.
Mora macht es uns mit ihrer Titelfigur Muna nicht leicht. Immer wieder stößt man sich an den Widersprüchlichkeiten ihres Charakters. Mit obsessiver Konsequenz manövriert sie sich in eine aussichtslose Beziehung hinein. Anstatt an ihren Erfahrungen zu reifen, erwachsen zu werden, nimmt ihre „kindliche“ Fixierung im Laufe der Jahre noch zu.
Mora taucht tief ein in die Chemie dieser ungesunden Beziehung. Sie beleuchtet die Verhaltensmuster ihrer Figuren ohne sich an Erklärungen oder Rechtfertigungen zu verlieren. Das macht Munas Entwicklung auf tragische Weise ebenso nachvollziehbar wie unerträglich. Sie ist eine von den Protagonist:innen, die man als Leser:in unheimlich gerne schütteln und zur Vernunft rufen möchte.
Mora nimmt ihre Figur nie in Schutz. Sie verfängt sich nicht in den üblichen Opfer/Täter-Narrativen, die bei solchen Beziehungsdramen üblicherweise verwendet werden. Vielleicht wirkt deshalb ihr Roman so ernüchternd. Vielleicht fällt deshalb der Zugang zu Muna so schwer. Trotz authentischer Wiedergabe von Munas Seelenleben kostet es Mühe Empathie für sie zu entwickeln. Und doch zeichnet Mora eine in sich gefangene Seele. Munas Verhalten ist eindeutig krankhaft.
Eine solche Darstellung ist unbequem. Denn sie wirft viele Fragen auf, deren Beantwortung offen bleibt. Wer trägt die Schuld? Wo beginnt die Verantwortung in einer Beziehung für den anderen? Mora deutet sogar das Unsagbare an: Trägt nicht sogar die misshandelte Frau selbst eine Mit-Verantwortung für ihre Opferrolle?
Dass man den Roman trotz dieser schwer auszuhaltenden Darstellungsweise gut lesen kann, liegt zweifelsfrei an der sprachlichen Virtuosität der Büchnerpreisträgerin, die die Stimmungslage ihrer Hauptfigur immer perfekt zum Ausdruck bringt.
Darüber hinaus bildet der fast 450 Seiten starke und zwanzig Jahre umspannende Text ein komplexes mitunter satirisches Kaleidoskop des universitären Betriebs ab. Munas Lebenslauf von der Studentin zur Doktorandin erlaubt einen umfangreichen Blick hinter die Kulissen akademischen Lebens.
Moras Muna stellt ein faszinierendes Paradoxon dar: Eine kluge unabhängig denkende moderne Frau, deren Leben zugleich von Abhängigkeit und völliger Unsicherheit geprägt ist. Das Besondere daran: Mora gelingt diese Widersprüchlichkeit darzustellen, ohne dass es widersprüchlich wirkt.
Der Roman stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreise 2023.
Der Lese-Empfehlung des Buchpreis-Komitees mag ich mich gerne anschließen.
- Autorin: Terézia Mora
- Titel: Muna oder die Hälfte des Lebens
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- Erschienen: August 2023
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 448 Seiten
- ISBN: 978-3630874968
Wertung: 12/15 dpt