Der Spionagethriller des Jahres
November 1983. Glienicker Brücke. Ein spektakulärer Austausch steht an. KGB-Offizier Rem Kukura, kurz Pilger genannt und bester deutscher Spion, gegen Jegor „Jeg the Ripper“ Beljakow, der in Amerika zum Tode verurteilt wurde, aber Sohn eines hochrangigen Politikers im Zentralkomitee der KPdSU ist. Nina Winter vom BND soll die Übergabe auf westdeutscher Seite durchführen, da sie die Einzige ist, die Pilger identifizieren kann. Doch die Übergabe endet in einer Katastrophe bei der nicht nur die Glienicker Brücke durch eine Explosion verloren geht.
„So fragt jemand, der nie dort war.
Rückblende. 1980. Nina Winter arbeitet als Analystin beim BND in Pullach. Eine reine Schreibtischtätigkeit die wenig Abwechslung verspricht. Dies ändert sich als ihr der Chef der Operativen Aufklärung sowie der Präsident des BND von Pilger erzählen. Ein Meisterspion, hochrangiger KGB-Offizier, der sie als seine Führungsoffizierin in Moskau anfordert. Seine Bedingung für die weitere Mitarbeit. Nur zwei Monate bleiben, um aus Nina eine Agentin zu machen. Ein Witz, da die Ausbildung normalerweise Jahre in Anspruch nimmt.
In Moskau angekommen gilt es nicht nur mit Pilger in Kontakt zu treten, sondern vor allem ihre Widersacher vom KGB aus der „Siebten Verwaltung“ abzuschütteln. Stolze dreißig Agenten der Spionageabwehr sind auf Nina angesetzt, allesamt Spezialisten für Observationen. Bald stellt Nina fest, dass sie einen mächtigen Gegner hat, doch vor allem stellt sich die Frage, wem sie überhaupt vertrauen kann? Ist Kukura wirklich der beste deutsche Spion oder wurde er vom KGB gedreht und soll später in Deutschland für die Russen spionieren? Hat er deshalb seinen gut aussehenden Sohn Leo ins Spiel gebracht, damit Nina diesem verfällt? Ein Tanz auf der Rasierklinge beginnt, zumal die Nerven der Supermächte zunehmend blank liegen. Der Einmarsch der Russen in Afghanistan führt zum Olympiaboykott, aber auch zur Stationierung nuklearer Raketen in Europa. Droht gar ein atomarer Weltkrieg?
Platz 1 der Krimibestenliste November 2023
Das Jahr 2023 nähert sich seinem Ende und man darf getrost die Prognose abgeben, dass „Wie Sterben geht“ einer der fulminantesten Thriller dieses Jahres ist. Selbst wer sich nur ansatzweise für Spionage interessiert muss hier zugreifen. Andreas Pflüger hat bereits mit seinen Romanen „Operation Rubikon“ und „Ritchie Girl“ in diesem Genre überzeugt. Mit „Wie Sterben geht“ liefert er sein bislang bestes Werk ab, in dem der Autor einmal mehr mit bestechender Detailverliebtheit glänzt.
Nina Winter, die im Verlauf der Handlung insgesamt sieben Namen erhalten wird (oder waren es mehr?), ist eigentlich eine Schreibtischagentin. Sie wertet Informationen aus und hat daher keine Erfahrung „im Feld“. Die russische Sprache beherrscht sie hingegen perfekt, alles andere muss ihr ein Ausbilder namens Thräne beibringen. Es bleiben zwei Monate Zeit um zu lernen wie man Briefkästen anlegt, Reinigungsschleusen nutzt, um mögliche Verfolger zu entdecken und Schüttelstrecken absolviert, um diese loszuwerden. Es kommt einem vor als wäre man beim Training live dabei. Gleiches gilt für Ninas Zeit in Moskau, in der nicht nur der Kalte Krieg für eisige Temperaturen sorgt. „Wie Sterben geht“ ist kein Actionkracher, sondern ein akribisch recherchierter Spionagethriller, den der Großmeister des Genres, John Le Carré, kaum besser hätte schreiben können.
Ein intensives Agententraining, Moskau respektive Russland als totalitärer Überwachungsstaat und dazu zahlreiche Figuren, bei denen man nie sicher sein kann, auf welcher Seite sie stehen. Womöglich auf mehr als einer und Maulwürfe gibt es sowieso überall; egal ob KGB, BND, BKA, HVA oder CIA. Wie schon beim Training wandelt man später in Moskau spürbar an Ninas Seite, zittert – in jeder Hinsicht – mit ihr mit, wenn mal wieder Gefahr von allen Seiten droht. Allein wie Pflüger die Stadt und die bedrückende Atmosphäre der allgegenwärtigen Überwachung zum Leben erweckt ist großes Kopfkino. Nicht zuletzt ist auch der zeithistorische Kontext ist beeindruckend. Nicht nur Breschnew, Andropov und Kohl lassen grüßen. Pflüger bezeichnete sich in einem Interview als Recherche-Junkie; es ist eher eine Untertreibung.
Trotz aller Bedrückung bietet der Roman „humorvolle“ Dialoge, welche nicht selten aus versteckten oder offenen Drohungen bestehen. Sprachlich anspruchsvoll ist der Roman ebenfalls, was womöglich „Gelegenheits- oder Urlaubsleser“ vor Probleme stellen könnte. Hierzu trägt zudem bei, dass es leider kein Glossar gibt, welches beispielsweise die zahlreichen Abkürzungen wie VF, SI oder QB erklärt. Diese werden zwar im Roman erklärt, aber zumeist nur einmal bei ihrer ersten Erwähnung. Konzentration ist somit gefordert, was ebenso für die Handlung gilt, die selbstredend zahlreiche Wendungen bereithält. Wer kann denn schon ahnen, wer für welchen Dienst im Einsatz ist?
Völlig zu Recht steht „Wie Sterben geht“ auf Platz 1 der Krimibestenliste November 2023.
- Autor: Andreas Pflüger
- Titel: Wie Sterben geht
- Verlag: Suhrkamp
- Umfang: 448 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Oktober 2023
- ISBN: 978-3-518-43150-4
- Produktseite
Wertung: 14/15 dpt