Welche ranghohen Nazis können (und sollen) für die Amerikaner arbeiten?
Paula Bloom lebt bis 1937 in Berlin, wo sie dank ihres Vaters ein sorgenfreies Leben hat. Douglas Bloom stammt aus einer schwerreichen, amerikanischen Familie und hat Kontakte in höchste Kreise. So ist er gut bekannt mit Allen Dulles, aber auch mit deutschen Regimegrößen. Die Geschäfte laufen großartig bis zu jenem schicksalsträchtigen Jahr, in dem Paula ihr Heimatland in Richtung Amerika verlässt.
Kurz vor Kriegsende, Paula hat sich beim Woman’s Army Corps gemeldet und arbeitet inzwischen als Schreibkraft und Übersetzerin für den Counter Intelligence Corps, CIC, Geheimdienst der Army, führt sie ihr erster Auslandseinsatz nach Italien, wo sie für ihren Vorgesetzten Walton Hyde ein Gespräch mit SS-Standartenführer Walther Rauff übersetzen soll. Wenig später kommt es zu einem schwerwiegenden Unfall, der den Einsatz abrupt beendet.
Ein Jahr später. 1946. Der Krieg ist vorbei und Paula soll für das CIC in Oberursel im Camp King arbeiten, wo ranghohe Nazis und Kriegsverbrecher von den Amerikanern gefangen gehalten werden. Sie sollen verhört werden um herauszufinden, wer angesichts des drohenden Konflikts mit Russland, womöglich für die Amerikaner eine wertvolle Hilfe sein könnte, denn über fundierte Kenntnisse in Osteuropa verfügen sie nicht.
Zu Paulas Entsetzen begegnet sie erneut Walther Rauff und vor allem Reinhard Gehlen, zuvor Chef des FHO, Fremde Heere Ost, beauftragt mit der Planung für Barbarossa, den deutschen Angriffskrieg auf die Sowjetunion. Sie sollen beim Kriegsprozess in Nürnberg verschont bleiben, wenn sie zukünftig für die Amerikaner arbeiten. Gefördert wird dieses unfassbare Programm ausgerechnet von Allen Dulles, der seine Karriere ebenso zielsicher wie moralisch skrupellos fortgesetzt hat.
Ein neuer dicker Fisch scheint den Amerikanern ins Netz gegangen zu sein, denn der Österreicher Johann Kupfer behauptet, er sei „Sieben“, der legendäre Meisterspion des Dritten Reiches. Keiner kennt bislang seine Identität, Paula soll ihn vernehmen. Ist er tatsächlich Sieben, wäre er eine große Hilfe im Kampf gegen Russland. Oder ist er nur ein Blender, der seinen Vorteil sucht oder noch schlimmer, womöglich gar ein Agent der Russen?
Intensive Geschichtsstunde über deutsche Kriegsverbrecher
Paula Bloom ist eine junge Frau, die mit dem Schicksal hadert, was vor allem in ihrer eigenen Geschichte begründet ist. Ihr Vater machte Geschäfte mit hochrangigen Nazis und Amerikanern, die allerspätestens nach Kriegsende in einem völlig neuem Licht erscheinen. Für das Schicksal ihrer besten Freundin Judith, einer Jüdin, macht sich Paula mitverantwortlich, wobei sie ihren dadurch entstandenen Selbsthass auf alle Deutschen projiziert. Diese machen es ihr mitunter leicht, denn selbstredend war niemand dabei als Millionen Juden systematisch getötet wurden. Sogar Walther Rauff, der an den sogenannten Gaswagenmorden maßgeblich beteiligt war, gilt plötzlich – Allen Dulles (später Chef der CIA) sei Dank – wieder als möglicher „Partner“.
Andreas Pflüger, bekannt durch die Romane mit der blinden Profilerin Jenny Aaron („Bekannt“, „Niemals“, „Geblendet“), geht der Frage nach, wie es sein konnte, dass wenige Jahre nach Kriegsende zahlreiche Kriegsverbrecher und überzeugte Nazis ungehindert ihr Leben in Deutschland und noch dazu erneut in Führungspositionen fortsetzen konnten. Walther Rauff beispielsweise, Miterfinder des Gaswagens, starb 1984; zur Rechenschaft gezogen wurde er nie. Hjalmar Schacht, einer von (nur) vierundzwanzig Angeklagten im Nürnberger Prozess gegen Hauptkriegsverbrecher, saß lediglich ein Jahr in Haft und Reinhard Gehlen blieb mit Hilfe der Amerikaner langjähriger Präsident des neu gegründeten Bundesnachrichtendienstes (1956-1968). Giselher Wirsing, als Goebbels‘ Vorzeigejournalist einer der größten Judenhasser, wurde 1954 Chefredakteur von „Christ und Welt“ und blieb es bis 1970. Ein Wahnsinn, allein das Nachwort des Autors lohnt die Lektüre.
Zudem verwendet Pflüger einen geschickten Kunstgriff, denn durch Paulas einflussreichen Vater kommt diese selbst mit zahlreichen amerikanischen wie deutschen Größen in Kontakt, ebenso mit namhaften Künstlern und Intellektuellen. So fließen immer wieder Szenen mit beziehungsweise Zitate von Persönlichkeiten wie Klaus Mann, Otto Dix oder Stefan Heym ein.
Für Fans von John le Carré ein Tipp
Die Kriegsverbrechen werden schonungslos offengelegt und geschildert, was gibt es da auch zu beschönigen? Umso krasser die oft ausbleibenden Konsequenzen nach Kriegsende. Die bekannte Verstrickung der IG Farben mit dem Dritten Reich wird beleuchtet, die Vollstreckung der Todesurteile im Nürnberger Prozess von Paula besucht, die – nicht nur nebenbei – zu gerne wüsste, was aus ihrer Jugendliebe Georg wurde. Johann Kupfer behauptet, Georg in Budapest getroffen zu haben, man könnte sich also gegenseitig behilflich sein. Nur, wer die Wahrheit sucht, muss sie aushalten können.
„Haben Sie einmal gesehen, wie ein Deutscher eine Hecke schneidet?“
„Warum?“
„Dann wüssten Sie’s.
Aber wie will Paula wissen, ob das, was Kupfer ihr erzählt überhaupt stimmt? Ein wirres Geflecht aus Lügen, Wahrheit und der Grauzone dazwischen scheint undurchdringlich. Zumal es Hinweise gibt, dass Kupfer ein russischer Spion sei oder ist der Überbringer dieser Aussage selbst ein solcher? Fans von John le Carré dürften großen Gefallen an „Ritchie Girl“ finden. Wer sich für deutsche Kriegsverbrecher respektive Kriegsverbrechen interessiert findet nur schwerlich einen intensiveren Roman.
- Autor: Andreas Pflüger
- Titel: Ritchie Girl
- Verlag: Suhrkamp
- Umfang: 464 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: September 2021
- ISBN: 978-3-518-43027-9
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Wertung: 13/15 dpt