Laura Vinogradova – Wie ich lernte, den Fluss zu lieben (Buch)


Rute hat sich in das alte abgeschiedene Haus ihres Vaters zurückgezogen. Ihre Ankunft gleicht einer Flucht. Sie will weg sein von ihrem bisherigen Leben, weg von der Stadt, weg von den Menschen, weg vor den Erinnerungen, die sie belasten. 

Ihre Schwester wurde entführt und gilt inzwischen als tot. Ihre Mutter sitzt im Gefängnis. Der Vater, den sie nie kannte, ist kürzlich verstorben. Ihre Kindheit war ein Desaster. Es ist ein ungewöhnlich großes Paket an Schicksalsschlägen, das die Hauptfigur mit sich herumträgt. Vorallem das Verschwinden der Schwester belastet sie enorm.

Ihre neue Nachbarin Mathilde und deren Bruder Kristofs reagieren zunächst verunsichert auf die schroffe Art, mit der Rute ihnen begegnet. Aber auch Mathilde und Kristofs tragen ihre Geschichten mit sich. Es dauert nicht lange und die Protagonisten öffnen sich einander.

Die Themenfülle, die die Autorin auf nur 120 Seiten ausbreitet, ist gewaltig. Umso beeindruckender ist, dass ihr schmaler Roman trotzdem niemals überfrachtet wirkt. Diese Klarheit verdankt der Text der gradlinigen Sprache Vinogradovas, die Britta Ringer perfekt vom Lettischen ins Deutsche übertragen hat.

Vinogradova inszeniert den Heilungsprozess ihrer Hauptfigur mit behutsamen Bildern. Es ist kein Zufall, dass Rutes Zufluchtsort an einem Fluss liegt. Das Bad im fließenden Gewässer, das als Metapher ständiger Veränderung gelesen werden kann, symbolisiert Reinigung und Wandlung.

Vinogradova ist sehr focussiert. Ihre Sätze sind kurz und kommen in ihrer Einfachheit fast kindlich naiv daher. So balanciert der Stil zwischen Nüchernheit und emotionaler Direktheit, wodurch die Unbeholfenheit der Protagonisten besonders gut zum Vorschein kommt.

Auch bei ihrer Charakterzeichnung agiert die Autorin sparsam und erzeugt mit nur wenigen Worten große Authentizität. Es ist gerade die Zurückgenommenheit, die die Wucht der Emotionen betont. Die Verletztlichkeit der Figuren hinter der wortkargen Fassade wird förmlich greifbar.

Zwischen die erzählende Prosa streut die Autorin Briefe ein, die sie Rute an die vermisste Schwester schreiben lässt. Rute wird hier zur Ich-Erzählerin, die den Leser:innen Einblick in ihre Gefühlswelt ermöglicht. Es sind herzzerreißende Zeilen, die den Schmerz, aber auch den Heilungsprozess der Protagonistin zusätzlich sichtbar machen. Doch auch ohne diese ergänzenden Passagen wäre die Erzählung bereits perfekt ausbalanciert gewesen.

Zehn kleine Illustrationen aus der Hand von Vitalijs Vinogradows ergänzen die 19 kurzen Kapitel. Sie zeigen Szenen und Figuren aus dem Buch. Es hätte sie nicht zwingend gebraucht, aber sie stören auch nicht.

Für deutschsprachige Leser:innen ist Laura Vinogradowa noch ein Geheimtipp. Ihr Roman wurde 2021 mit dem Europäischen Literaturpreis 2021 ausgezeichnet.

  • Autorin: Laura Vinogradowa
  • Titel: Wie ich lernte den Fluss zu lieben
  • Originaltitel: Upe
  • Übersetzerin: Britta Ringer
  • Verlag: Edition Wannenbuch
  • Erschienen: September 2023
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 124 Seiten
  • ISBN: 978-3947409570

Wertung: 11/15 dpt


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