Joachim B. Schmidt hat mit „Kalmann“ 2020 und „Tell“ 2022, beide bei Diogenes erschienenen, gleich zwei Romane in kurzer Abfolge veröffentlicht, die beide verdientermaßen in den Bestsellerlisten gelandet sind. Beide Romane überraschen damit, dass sich Schmidt mit ihnen nicht wiederholt, sondern sowohl stilistisch als auch inhaltlich jeweils völlig neu erfindet.
Umso neugieriger war ich also auf „Am Tisch sitzt ein Soldat“ aus dem Jahr 2014, der zunächst im Landverlag erschien, jetzt aber im Diogenes Verlag neu aufgelegt wurde. Wie viel von den späteren Erfolgsromanen ist hier bereits angesiedelt? Ist auch dieses Buch ein bestsellerwürdiges Unikat?
Schmidts Plot folgt dem klassichen Muster des Heimkehrers, der einem Familiengeheimnis auf die Spur kommt: Im Mittelpunkt steht der Isländer Jón, der während der 1967er Jahre in Berlin Medizin studiert. Als ihn die Nachricht erreicht, dass seine Mutter im Sterben liegt, reist er kurzerhand zurück in die Heimat. Dort wird er nicht nur mit seiner Trauer, sondern auch mit der Familiengeschichte konfrontiert. Ein rätselhafter Hinweis der sterbenden Mutter bringt ihn auf die Spur zweier Toter, die im Garten begraben liegen. Liegt hier ein Verbrechen vor? Wer hat damit zu tun? Inwieweit ist seine eigene Familie in die Geschehnisse involviert? Die Aufklärung dieses Geheimnisses nutzt Schmidt um seinen Spannungsbogen in Krimimanier aufzubauen.
Schmidts Wahl, die Handlung in die 1967-er Jahre zu verlegen, ist ein geschickter Schachzug. Erstens spielte in dieser Zeit die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich eine brisante Rolle, zweitens gestattet dieser historische Rahmen den direkten Dialog mit Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Hinweis auf die Kriegsereignisse wird zum entscheidenden roten Faden, der sich durch Jóns Spurensuche zieht.
Seit der Kindheit glaubte Jón daran, der Vater wäre bei einem Sturm im Fluss ertrunken. Nun wird ihm bewusst, dass er seit Jahrzehnten belogen wurde. Immer wieder kommen ihm Bilder aus seiner frühsten Kindheit in den Sinn, in denen auch ein abgestürzter Wehrmachtsoldat eine Rolle spielt. Er ahnt, die Lösung des Geheimnisses liegt irgendwo hinter seinen eigenen tief vergrabenen Erinnerungen verborgen. Die Verknüpfung der historischen Ereignisse mit der persönlichen Familiengeschichte gerät zum Verwirrspiel, welches der Protagonist aufzuklären versucht.
Sehr gelungen sind die Landschaftsbeschreibungen. Schmidt bindet die raue Natur Islands stimmig in die Handlung ein. Die Natur spiegelt in ihrer Wildheit und Unberechenbarkeit die Stimmungen des Protagonisten, der, mit den offenen Fragen zur eigenen Geschichte konfrontiert, deutlich ins Strudeln gerät.
Auch die Nebenfiguren bereiten bei der Lektüre viel Freude. Schmidt inszeniert authentische Charaktere mit Ecken und Kanten. Durch ihre Darstellung erzeugt der Autor ein sehr lebendiges Porträt der isländischen Gesellschaft jener Jahre. Gerade durch die zahlreichen „kleinen“ Geschichten, die er durch seine Figuren am Rande erzählt, erhält der Roman Tiefe und Gewicht.
Ansonsten ist der Plot eher traditionell aufgebaut. Das Ende überrascht, auch weil es auf den allerletzten Seiten ein wenig sehr gewollt und übers Knie gebrochen daher kommt. Doch auch wenn der Ausgang nicht ganz zum Rest der ansonsten sorgfältig aufgebauten und authentisch inszenierten Handlung passt, ist dieser frühe Roman aus Schmidts Feder durchaus eine Leseempfehlung wert.
- Autor: Joachim B. Schmidt
- Titel: Am Tisch sitzt ein Soldat
- Verlag: Diogenes Verlag
- Erschienen: August 2023
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 320 Seitem
- ISBN: 978-3257246896
Wertung: 11/15 dpt