Selina Seemann – Die Stärkste unter ihnen (Buch)

© Kremayr Scheriau

Milena ist 15, als sie mit Nick zusammenkommt. Sie liebt ihn. Sie tut alles für ihn. Sie erfüllt ihm jeden Wunsch. Und Nicks Wünsche sind speziell. Er wünscht sich, dass sie fremde Männer oral befriedigt, während er dabei zusieht. Er wünscht sich, dass sie gemeinsam einen Swingerclub besuchen und sie sich von älteren Männern penetrieren lässt. Er wünscht sich Verkehr ohne Schutz.

Milena ist 20, als sie es schafft, sich von Nick zu trennen. Und Nick ist über 40.

„Die Stärkste unter ihnen“ klingt nach einer erschreckenden Lektüre. Doch am erschreckendsten ist der Umstand, wie abgebrüht die Protagonistin ihre Geschichte erzählt.

Mittelpunkt des Romans ist Milena. Sie ist jung, arbeitet ehrenamtlich in der kirchlichen Jugendarbeit und studiert irgendwann. Das ist alles, was die Leser*innen über sie erfahren. Leider fehlt an dieser Stelle mehr Background. Ihre Familie bleibt unsichtbar. Auch ihre Ziele werden mit keinem Wort erwähnt. Denn Milenas Universum dreht sich um Männer. Und ihr zwanghaftes Bemühen darum, es ihnen recht zu machen. Genau an dieser Stelle wird der Wunsch geweckt zu erfahren, warum Milena so handelt wie sie handelt. Welche Vaterfigur steht hinter dem Mädchen, dass sich ab ihrem 15. Lebensjahr wie menschlicher Abfall behandeln lässt? Die Antwort bleibt verborgen.

„Ich wünschte, ich hätte etwas gesagt, als er das erste Mal von meiner geilen kleinen Muschi sprach, aber ich brachte es nicht über mich. Ich hatte Angst, sein Ego zu verletzen, es hätte eine Verschiebung in unserem Machtgefälle gegeben, für die ich nicht bereit war.“

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Milena überhaupt noch nicht bereit ist, Beziehungen mit Männern einzugehen, denn letztlich sind sie allesamt toxisch:

Da ist Nick, der sie sexuell und emotional ausbeutet. Er ist über 20 Jahre älter als sie, und als ihr Jugendgruppenleiter steht er in der Hierarchie über sie. Es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis, welches sich auf widerlichste Weise zuspitzt.

Josh ist Milenas neuer Freund, direkt nach der Trennung von Nick. Er freut sich über ihr Erscheinen, als sie ihn auf der britischen Insel besucht, bringt ihr aber nichts entgegen, sondern lässt sie an sich abarbeiten wie eine Prostituierte. Er liegt da, während sie sich bemüht, ihn auf verzweifelte Weise zu bezirzen.

Und David ist David. Irgendwie schön. Irgendwie vertraut, aber mehr Freund als Mann. Als ihr Exfreund und nun bester Freund benutzt er sie ebenfalls dann, wenn es passt. Erscheint eine neue Frau, dient Milena als Kumpel.

Die Sprache des Romans kommt schnoddrig daher. Teils ist es zu vulgär und banal, wie Milena ihre peinlichen Abenteuer beschreibt, die weniger Abenteuer sind als vielmehr Episoden, die man – wären sie auf Video festgehalten – am liebsten vorspulen würde. Teils möchte man sie schütteln und fragen, warum sie das alles mitmacht, weil man ihr Alter vergisst. Doch trotz ihres zarten Alters lässt die Figur jede Tiefe, jeden Anflug von ein wenig Reife oder Würde vermissen.

Milena ist unsympathisch. In ihrem Kreisen um irgendwelche Männer dreht sich in ihrem Leben alles nur darum, wie sie zurechtkommt und sich die Männer so schön einreden kann, bis sie sich darin wohlfühlt. Sie denkt nicht darüber nach, welchen Schaden sie betrogenen Ehefrauen und deren Kindern zufügt. Sie ist Egoistin. Eine benutzte Egoistin, aber Egoistin. Selbst Jahre später denkt sie nicht darüber nach, welche Konsequenzen ihr Handeln gehabt und wie viel Schmerz sie anderen Menschen zugefügt haben könnte. Stattdessen strengt sie sich so sehr an, sich als das Opfer einer toxischen Beziehung darzustellen und gleichzeitig so cool dabei rüberzukommen, dass es wie eine gewaltige Welle des Selbstmitleids durch die Geschichte schwappt.

Fazit

Eine schockierende Geschichte erzeugt ihre Schockmomente weniger dadurch, vulgäre Begriffe und Handlungen zu benennen. Es sind häufig die Emotionen, die letztlich Schock bei den Leser*innen auslösen, wenn es dann tatsächlich zu solchen traumatischen Erzählungen kommt. Leider fehlt dem Roman von Selina Seemann das Gefühl. Alles wird erzählt, als handele es sich um einen Ausflug. Eine Klassenarbeit. Ein neues Spiel auf der Playstation. Dadurch bleibt jedes Mitgefühl aus, selbst jede Identifikation oder ein Hauch von Sympathie für eine Frau, der es gelingt, sich zu emanzipieren.

„Die Stärkste unter ihnen“ ist ein Zeugnis moralischer Verwahrlosung vor dem Hintergrund des Möglichen. Irgendwie so irgendwie, aber nie ganz da. Genauso wie Milena. Absicht oder Zufall? Spannend transportiert!

  • Autor: Selina Seemann
  • Titel: Die Stärkste unter ihnen
  • Verlag: Kremayr & Scheriau
  • Umfang: 224 Seiten
  • Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
  • Erschienen: 14.08.2023
  • ISBN: 9783218014069
  • Produktseite

Wertung: 11/15 dpt

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