Peter Marius Huemer – Die Bibliothekarin (Buch)


Der gut 200 Seite starke Roman „Die Bibliothekarin“ des österreichischen Autors Peter Marius Huemer überrascht als ein klaustrophobisches Kammerspiel von enormer Wucht.

Mit erbarmungsloser Konsequenz entwirft Huemer eine dytopische Realität, in deren Mittelpunkt die namenlos bleibende Hauptfigur steht. Die Handlung ist in einer nicht näher definierten Zukunft angesiedelt. Die Menschen leben unterirdisch, in kleinen Einheiten aufgeteilt, ohne familiäre Strukturen. Die Kinder werden gemeinschaftlich groß gezogen und dann einer lebenslangen Aufgabe zugeführt, die sie – wie im Falle der Protagonistin – in völliger Isolation erledigen.

„…weil ich so eine schöne Handschrift hatte, wurde ich Bibliothekarin. Nein, ich war Bibliothekarin und man hat es erst mit meiner Handschrift herausgefunden. Wie hätte man es vorher auch wissen sollen?“Seite 16

Akribisch schildert Huemer den eintönigen Alltag seiner Protagonistin, die wie eine Biene im Stock, die ihr zugewiesene Pflicht erfüllt: widerspruchslos, automatisiert, allein definiert durch ihre Arbeit, ohne individuelle Bedürfnisse zu benennen. Die Bibliothekarin lebt in einer winzigen Wohnröhre, die direkt an der unendlich groß erscheinenden Bibliothek angeschlossen ist. Alles was sie zum Leben benötigt, erhält sie durch einen kleinen Versorgungskanal. Ihre Kommunikation mit der Außenwelt beschränkt sich auf die Bestellungen, mit denen sie Essen und Toilettenpapier anfordert, wofür sie kurze Nachrichten auf kleine Zettel schreibt, in Röllchen schiebt und per Luftschacht verschickt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Bestände der Bibliothek zu listen. Sie weiß weder für wen sie das tut, noch warum, noch, ob es überhaupt jemanden interessiert. Es ist ihr untersagt, die Bücher in ihrer Obhut zu lesen.

Huemer nimmt sich viel Zeit. Ganz langsam entwickelt sich der Sog, der in die Geschichte hineinzieht. Durch Zufall entdeckt die Bibliothekarin in ihrer Umgebung einen versteckten Raum, in dem Lebensmittel und ein Funkgerät gelagert sind. Sie nimmt beides an sich. Ihre Pflichtverletzung bleibt jedoch ohne Folgen. Die engbemessene Welt ist von nun an in ihren Grundfesten erschüttert. Der erste Schritt der Rebellion ist getan.

Mein Aufstand war absolut wie das Gesetz der Pflicht. Ich verweigerte mich völlig. … Stattdessen legte ich mich zurück ins Bett, um mich zu langweilen. Eine angenehme Langeweile war das im Gegensatz zu der gewöhnlichen Monotonie des Katalogisierens. Aber auch sie war nur schwer zu ertragen. Was blieb mir also übrig als noch ein Gesetz zu missachten? Die Schleusentore waren geöffnet, die See zuletzt doch eingedrungen. Ich las ein Buch. Seite 29

Dieses Ereignis markiert, wie sie selbst sagt, einen „Anfang des Mitzuteilenden“. Die Bibliothekarin beginnt zu kommunizieren. Zunächst in kleinen unscheinbaren Schritten durch ausgedehntere Grußformeln auf ihren Bestellzetteln.

Schrittweise ermächtigt sie sich der Sprache. Die Bücher helfen ihr dabei. Sie lernt Worte und erschließt sich deren Bedeutung. Ihre Welt und ihr Denken werden komplexer. Ihre Neugier wächst. Sie beginnt ihren Wortschatz zu katalogiesieren, um ihn später auch noch anderen zugänglich zu machen.

Über die vergangenen Monate habe ich zu schreiben gelernt. Natürlich meine ich damit nicht, Buchstaben zu formen, nicht einen Stift zu halten, sondern Worte, einen Schatz an Worten zu gebrauchen, um eine Geschichte zu erzählen. Seite 22

Bereits mit den ersten Szenen drängt sich der Vergleich zu Orwells „1984“ und Haushofers „Die Wand“ auf. An Intensität steht Huemers Roman diesen Kultbüchern auch bis zum Ende in Nichts nach.

Wie in „Die Wand“ erhalten auch hier die Leser:innen keine Erklärung für die Umstände, die zu der dargestellten Dystopie geführt haben. Das Gefühl einer latenten Bedrohung wird dadurch unablässig aufrecht erhalten. Trotz aller Abgeschirmtheit ist die Welt der Bibliothekatrin keine sichere Welt. Wie am seidenen Faden hängt ihr Überleben von der unbekannten Aussenwelt und deren erbarmungslosen Gesetzen ab. Doch anders als in Haushofers Roman, in dem die Hauptfigur ihre Isolation teilweise sogar als eine Idylle erlebt, verleiht Huemer seiner Bibliothekarin eine tiefe Sehnsucht nach Gesellschaft.

Sprache, die dem Willen gehorcht, die auf die Reise geht und stets ihr Ziel erreicht. Ein Wunder!Seite 11

Durch die Sprache findet die Protagonistin ein Instrument zur Freiheit. Huemer lässt sie als Ich-Erzählerin sprechen. Mit ihrem Erzählen beginnt die Geschichte überhaupt erst eine Form anzunehmen. Es sind die Worte, die ihrem Denken Struktur verleihen. Doch sie erkennt: Das Wort braucht ein „Wiederwort“, eine Antwort, ein lebendiges Echo. Ohne den Austausch von Worten bleibt die Freiheit am Ende unvollständig und das Wunder bleibt aus.

Huemer inszeniert die Verzweiflung der Bibliothekarin auf eine Weise, die beim Lesen schmerzt. Sein Roman ist bis zur letzten Konsequenz unbequem. Er verweigert seinen Leser:innen nicht nur wichtige Erklärungen sondern auch den ersehnten Hoffnungsschimmer. Das Ende, welches der Autor uns und seiner Protagonistin zumutet, ist kaum zu ertragen. Die Geschichte funktioniert wie ein Kreis, der sich am Ende erneut hermetisch abriegelt, um sein letztes Geheimnis zu bewahren.

Doch anders als die Bibliothekarin in der Geschichte findet der Autor durch den Roman einen Weg nach draußen. Das ungelöste Rätsel der erzählten Geschichte wird zur Botschaft, die die Kraft der Sprache beschwört. Der Sprache als etwas, das nur befreit, wenn sie geteilt werden kann.

Große Leseempfehlung!

  • Autor: Peter Marius Huemer
  • Titel: Die Bibliothekarin
  • Verlag: Septime Verlag
  • Erschienen: März 2023
  • Einband: Art des Einbands
  • Seiten: 216 Seiten
  • ISBN: 978-3991200239

Wertung: 13/15 dpt


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