Ein Todesfall zu viel
München. 1937. Heinrich Truttenberger lebt und arbeitet als Unternehmer seit vielen Jahren fernab seiner Heimatstadt Wien, als ihn die Nachricht vom plötzlichen Tod seiner Mutter Emile erreicht, zu der er schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Zur Beerdigung reist Heinrich nach Wien, wo er erstaunliche Neuigkeiten erfährt. Seine Mutter hatte vor einem Jahr ihre Wohnung an eine junge Frau namens Lotte vermietet, während sie selber als Untermieterin in eine Villa einzog, die der schönen Martha Marek gehört. Martha und Emile verstanden sich anscheinend von Beginn an prächtig, doch wie kann das sein? Seine Mutter war eine meist abweisend und unnahbar wirkende Person, die noch dazu kaum von ihren Gewohnheiten abwich. Plötzlich soll sie von heute auf morgen alles aufgegeben und ein neues Leben begonnen haben.
Es kommt noch ärger, denn Emile hat in ihrem Testament verfügt, dass Martha ihre Alleinerbin ist. Dies kommt Heinrich alles verdächtig vor und so wendet er sich an die Wiener Polizei, wo sich Kommissar Hans Mahler von der Abteilung Leib und Leben für den Fall interessiert. Mahler erinnert sich, dass er vor vielen Jahren einen Prozess verfolgte, in dem Marthas Ehemann des Versicherungsbetruges verdächtigt wurde. Sie selber saß wegen Beihilfe ebenfalls eine kurze Zeit im Gefängnis. Nun taucht eine Versicherungspolice auf, die Martha für Emile zu ihren Gunsten abgeschlossen hatte. Und siehe da, weitere Recherchen ergeben, dass es im Leben der Martha weitere Todesfälle gab, die alle recht plötzlich endeten.
Wahrer Fall mit zahlreichen schriftstellerischen Freiheiten
Nina Jelinek erzählt in ihrem ersten Roman die Geschichte der Martha Marek, auf die sie einst im Wiener Kriminalmuseum aufmerksam wurde. Im Internet finden sich zu dem Fall kaum Informationen, ihr Buch enthält zahlreiche „schriftstellerische Freiheiten“, wie die Autorin in ihrem Nachwort einräumt. Namen, Ereignisse und Zeitpunkte der Handlung wurden mitunter verändert oder gar erfunden. Daher Roman und nicht Sachbuch.
Die Geschichte der Martha wird in zwei Erzählsträngen vorgestellt. Die Situation in den Jahren 1937 bis 1938, also von dem Tod der Emile Truttenberger bis hin zur Urteilsverkündung in einem Prozess, in welchem Martha des mehrfachen Mordes beschuldigt wurde. Aber war sie eine eiskalte Giftmörderin oder schlug nur das Schicksal des Öfteren grausam zu? Dies erfährt man in Rückblenden im zweiten Erzählstrang.
Martha ist ein hübsches Kind, allerdings liegt ihr die Schule nicht. 1914, sie ist gerade neun Jahre alt, setzt sich der geliebte Vater nach Amerika ab und ihre Mutter Helene sieht sich gezwungen, Martha in ein Nonnenkloster in Niederösterreich abzugeben. Dort gefällt es Martha überraschend gut, was auch an einem Gärtner namens Gustav liegen mag. Es kommt zu dezenten amourösen Geschehnissen und Martha entdeckt früh, dass sie mit ihrem Aussehen bei den Männern punkten kann. Zwei Jahre später holt Helene, die mit einem neuen Mann verlobt ist, Martha zurück nach Wien, wo diese bald den über fünfzig Jahre älteren Unternehmer Otto Wurstinger kennenlernt, der sich Hals über Kopf in das Mädchen verliebt. Mit sechzehn Jahren wird Martha seine Partnerin und genießt ein Leben im Wohlstand, während der Großteil der Bevölkerung unter den Folgen des Krieges große Not leidet.
1922 lernt Martha den attraktiven und nur wenig älteren Emil Marek kennen, doch da ist sie bereits mit Otto verheiratet. Als dieser überraschend stirbt, steht einer Beziehung mit Emil nichts mehr im Weg, eine Hochzeit findet gut ein Jahr später statt. Zwei Kinder werden aus der Ehe hervorgehen. Allein, das Erbe von Otto reicht nicht ewig und Emil will als vermeintlichem Erfinder so rein gar nichts gelingen. Wie erwähnt, es kommt zu einigen überraschenden Todesfällen und ein gewisser Verdacht drängt sich zunehmend auf. Gleichwohl bleibt einiges im Ungefähren.
„Der Todesengel von Wien“ ist ein gelungener Mix aus Kriminalfall, Biografie und Zeitgeschichte. Von Heinrichs Leben erfährt man verhältnismäßig wenig, die zentrale Person ist selbstredend Martha. Diese ist eine Schönheit und weiß dies einzusetzen, ist dem Wohlstand verfallen, aber letztlich nicht vor schweren finanziellen Rückschlägen gefeit. Die begleitenden Darstellungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den Nachkriegsjahren bis ins Jahr 1938 sind interessant. Das Urteil, welches am 20. Mai 1938 gefällt wird, ist nicht zuletzt ein Zeugnis seiner Zeit.
- Autorin: Nina Jelinek
- Titel: Der Todesengel von Wien
- Verlag: Gmeiner
- Umfang: 315 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: September 2023
- ISBN: 978-3-8392-0466-5
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Wertung: 11/15 dpt