Jem Calder – Belohnungssystem (Buch)


© Claassen

“Belohnungssystem” von Jem Calder ist nichts, wenn nicht Gegenwartsliteratur. Die Kurzgeschichten, die mal mehr und mal weniger eng verwoben sind, zeichnen ein Bild von Arbeit, die nicht erfüllt, von Beziehungen, die oberflächlich bleiben, von Einsamkeit und Isolation während der Corona-Pandemie.

Distanz ist das Thema, das alle Geschichten gemein haben. Distanz zu anderen Menschen, zum Job, sogar zu den eigenen Werten und Meinungen.

[…] Chloe Daley, die leidenschaftlich und informiert über das betreffende Thema spricht, obwohl sie – ein ernüchternder Gedanke -, je länger sie darüber redet, zunehmend unsicherer wird, ob ihr die Sache ehrlich am Herzen liegt oder ob sie bloß eine Reihe vorgefertigte, ihr von einem riesigen multimedialen Sendeapparat eingetrichterte Stichpunkte nachbetet. Falls Ersteres: Warum ist es ihr dann nicht viel wichtiger? Falls Letzteres: Was haben all diese Gedanken dann in ihrem Kopf verloren?

Auch wir Leser*innen kommen nicht so richtig an die Charaktere heran. Wie auch sie selbst haben wir keinen Zugang zu ihren Gefühlen, die sie regelmäßig rationalisieren und glattbügeln. So wie Julia, nachdem sie von ihrem Chef/Lover vor den Kolleg*innen runtergeputzt wird:

Ein paar Sekunden stierte Julia auf den Fußboden, überlegte, ob sie versuchen sollte, sich weiter normal zu fühlen, oder sich doch erlaubte, verstimmt zu sein.

Jem Calders Protagonist*innen sind unsicher, unnahbar, verloren, lassen sich vom Schicksal treiben. Sie versuchen, sich selbst zu finden, aber haben ehrlich gesagt auch grade ein bisschen aufgegeben. Alles, was sie tun, fühlt sich irgendwie halbherzig und unpersönlich an.

Und dennoch, oder gerade deshalb, haben die Geschichten eine solche Wirkung. Denn genau so geht es wahrscheinlich vielen jungen Erwachsenen im digitalen Zeitalter. Sie sind auf der Suche nach etwas, dem sie ihr Leben widmen können und werden gleichzeitig auf den sozialen Medien mit vermeintlichen Möglichkeiten überhäuft. Idealerweise etwas von großer Bedeutung, aber auch etwas, das einem Sicherheit gibt. Und man muss natürlich trotzdem spontan und frei bleiben. Die Ernüchterung und die Hoffnungslosigkeit, die eintreten können, wenn der Job eben doch wieder nur ein Job ist, in den man viel zu viel Zeit investiert und nebenbei die eigenen Freunde vernachlässigt, wenn die tolle neue Beziehung doch plötzlich irgendwie nicht mehr läuft, diese Gefühle bringt Jem Calder meisterhaft rüber.

“Belohnungssystem” ist kein Buch mit übersprudelnden Emotionen oder starken Charakterentwicklungen. Es zeigt Charaktere, die an einem Punkt in ihrem Leben stehen, an dem sie gerade noch nicht richtig weiter wissen. Aber vielleicht darf man sich ja manchmal auch einfach ein bisschen verloren fühlen.

 


Wertung: 12/15 dpt

  • Autor: Jem Calder
  • Titel: Belohnungssystem
  • Originaltitel: Reward System
  • Übersetzer: Jan Schönherr
  • Verlag: Claassen
  • Erschienen: Juli 2023
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 272
  • ISBN: 978-3546100311
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Erwerbsmöglichkeiten

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