Von der (Wieder-)Entdeckung der Neugier
Wie sehr sind Stadt und Natur ein Gegensatz? Oder beruht die Annahme, es handle sich um einen Gegensatz, vielleicht auf einen Irrtum?
Zu Beginn beschreibt Autorin Hanna Bjørgaas wie ein Schlüsselerlebnis zur Initialzündung zu ihrem Sachbuch wurde. Auf der Reise in einen entlegenen Teil der Antarktis stellte die studierte Biologin erstmals fest, dass sie mehr über die Flechten der Antarktis weiß als über die in ihrem eigenen Hinterhof. Sofort nach ihrer Rückkehr ins heimatliche Oslo beginnt sie ihre Umgebung mit anderen Augen zu betrachten.
Ihr erstes Interesse fällt auf die Vögel in der Stadt. Es sind vor allem die Krähen, die sie faszinieren. Mit einem Fernglas bewaffnet beobachtet Bjørgaas die allgegenwärtigen Tiere, denen sie zuvor noch nie ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Dabei macht sie erstaunliche Entdeckungen, sei es z.B. die hervorstechende Intelligenz der Krähen, die der von Kleinkindern entspricht, oder die komplexe Singssprache der Vögel. Bei ihren Erkundungstouren geht es Bjørgaas jedoch nicht um exakte Wissenschaft. Sie will eine neue Aufmerksamkeit etablieren, den Fokus auf die direkte Umgebung lenken.
Mit jedem Kapitel nimmt Bjørgaas sich einer weiteren Lebensform in ihrer städtischen Umgebung an. Sie spricht u.a. über Singvögel, Ameisen, Möwen, Bäume, über Würmer, Mikroorganismen im Boden, Fledermäuse und Flechten.
Ihre Vorgehensweise ist dabei immer gleich: Sie betrachtet ein alltägliches Phänomen als sehe sie es zum ersten Mal und stellt sich dazu Fragen. Diesen geht sie nach, oft auch in dem sie weitere Fachliteratur zu Rate zieht oder das Gespräch mit Expert:innen sucht.
Dabei nimmt Bjørgaas ihre Leserschaft regelrecht an die Hand und führt sie durch die vertraute Umgebung, die dadurch zum Entdeckungsland wird. Mit der neufokussierten Betrachtung des Alltäglichen verschiebt sich auch die Einstellung zur direkten Umgebung. Dass wir Menschen es gewohnt sind unseren Lebensraum als uns allein gehörend zu betrachten, ist ebenso überheblich wie falsch. Denn – genau das zeigt uns die Autorin anhand ihrer zahlreichen Beispiele – natürlich sind wir nicht allein. Direkt neben uns existiert eine Welt, die von uns Menschen meist gar nicht – und wenn dann höchstens als beiläufig oder gar störend – wahrgenommen wird. Mit lockerer Selbstironie hinterfragt sie den menschlichen Blick und ihre eigene Position.
Sehr kritisch wird sie in ihrer Dokumentation bei Tierarten, die sich in den letzten Jahren vermehrt neue Lebensräume in den Städten erobert haben und uns daher nicht selten als Plagegeister erscheinen. Bjørgaas stellt klar: Auch diese Entwicklung ist menschengemacht. Die Tiere sind Flüchtlinge, deren natürliche Lebensräume durch den Mensch zerstört wurden. Möwen kommen in die Stadt, weil die Küsten leergefischt sind. Singvögel, die früher auf dem Land beheimatet waren, ziehen in die Städte, weil ihr Lebensraum durch die intensive Landwirtschaft vernichtet wurde.
Seite 138
zitiert Bjørgaas eine wissenschaftliche Quelle.
In ihrem Sachbuch protokolliert Bjørgaas alle ihre Ergebnisse ausführlich – ohne sich dabei jedoch in schwerem Fachjargon zu verlieren. Ihr Stil ist umgangsprachlich und leicht zugänglich. Immer wieder lässt sie unterhaltsame Anekdoten einfließen. Ihr Sachbuch liest sich stellenweise wie ein Roman, bei dem die Forscherin selbst zur Ich-Erzählerin wird.
Bjørgaas führt am eigenen Beispiel vor, wie sehr uns die Wahrnehmung für die Umwelt verloren gegangen ist und welche Gefahren diese Entwicklung birgt. Sie möchte unser Interesse wiederbeleben, indem sie zeigt, wie unmittelbar Natur – sogar mitten in der Stadt – direkt vor unserer Nase stattfindet. Ihr Buch ist dafür die perfekte Einladung. Eine sympatische Anleitung zum Neugierigsein.
- Autorin: Hanna Bjørgaas
- Titel: Das geheime Leben in der Stadt, Nachrichten aus der urbanen Wildnis
- Originaltitel: Byens hemmelige liv
- Übersetzerin: Sabine Richter
- Verlag: STROUX edition
- Erschienen: Juli 2023
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 304 Seiten
- ISBN: 978-3948065270
Wertung: 13/15 dpt