Der qivittoq verlangt seine Opfer
Kopenhagen. Kommissar Jens Lerby hat einmal mehr Stress mit seinem Vorgesetzten Birger Sorensen, allerdings dieses Mal aus ganz neuen Gründen, denn Lerby will sich in den Innendienst versetzen lassen. Noch sind es zwei Wochen und ein neuer Mordfall wartet bereits. In Helsingor, rund eine Stunde von der Hauptstadt entfernt, wurde der sechsundsiebzigjährige Alfred Vestergaard erstochen und sein Gesicht brutal entstellt. Die Augen fehlen, der Mund ist zugenäht, die Kollegen vor Ort sind über die Hilfe durch Lerby dankbar. Zwei Telefonate führte Vestergaard vor seinem Tod, eines mit einer gewissen Dufina Nielsen, das andere überraschenderweise mit Lerby selbst. Nun, letzteres Telefonat hat nicht wirklich stattgefunden, da sich der Anrufer nicht äußerte. Noch während der Befragung von Nielsen wird Lerby ins Polizeiquartier zurückbeordert, wo ihm Inspektor Mads Beck vom Politiets Efterretningstjeneste (PET), dem dänischen Inlandsnachrichten- und Sicherheitsdienst, den Fall entzieht.
„Allerdings – nämlich den, dass er krank ist.
Am nächsten Tag ist Nielsen tot, sie wurde genauso grausam ermordet wie Vestergaard. Derweil erhält Lerby einen Anruf von Pallaya „Pally“ Shaa, einer Inuit aus dem kleinen Ort Illokarfiq in Grönland, wo Lerby vor achtzehn Monaten einen spektakulären Fall löste. Pallys Großvater, der Schamane Magnus, hatte eine Herzattacke und will Lerby noch einmal sehen. Gemeinsam mit Ehefrau Eva fliegt Lerby nach Illokarfiq, wo kurz darauf ein Mord nach dem gleichen Muster wie die beiden Morde in Kopenhagen geschieht. Sollten die düsteren Prophezeiungen von Magnus stimmen, wonach der qivittoq, ein grausames Wesen aus der grönländischen Mythenwelt, sein Unwesen treibt. Einst wurde ein Jäger von seinem Stamm vertrieben, überlebte im Eis und sann auf Rache. Aber gibt es den qivittoq wirklich?
Zweiter Jens-Lerby-Thriller ist kongeniale Fortsetzung
Fynn Haskin setzt nach „Blutiges Eis“ mit „Roter Spur“ seine Jens-Lerby-Reihe fort, was bedeutet, dass es wieder in die raue Landschaft Grönlands geht, genauer in das 2000-Seelen-Örtchen Illokarfiq. Es gibt ein Wiedersehen mit Pally, welches Eva mit einer gewissen Distanz beobachtet, sowie mit den Polizisten Daavi Keldsen und Polizeichef Ejnari Inasson. Und natürlich mit Magnus, dem Schamanen, der die Geschehnisse in seinen Träumen vorhersieht. Allein, zunächst will ihm keiner glauben.
„Du meinst, weil er dafür zu feige ist?“
„Nein, Daavi. Weil er mutig genug ist, um zu leben.
Wie schon im Vorgänger verbindet Haskin mehrere Komponenten gekonnt miteinander. „Der Mondmann“, gemeint ist Leribi, wie ihn die Inuit nennen, spielt mit den alten Sagen und Mythen eines indigenen Volkes, welches uns weitgehend unbekannt ist. Dazu die unfassbar weite und raue Welt Grönlands, die eine bildgewaltige Kulisse bietet und ein schreckliches Verbrechen, das in die 1950er Jahre zurückreicht. Dazu treibende Action wie man sie aus erfolgreichen, soll heißen oft verkauften, Mainstreamthrillern erwartet. Kurze Kapitel, oft wechselnde Orte und gekonnte Cliffhanger sorgen für hohes Lesetempo. Wer Ruhe und wenig Blut bevorzugt ist hier falsch, wenngleich allein der Vergleich zwischen der traditionellen Welt der Inuit und der westlichen Welt schon zu lesen lohnt. Haskin legt hier den Finger in die Wunde, entblößt, was die Anzugträger im fernen Straßburg respektive Brüssel einst der Urbevölkerung Grönlands antaten. Die Inuit waren Jäger und Nomaden bis man sie zu festen Wohnsitzen in Häusern verdonnerte und ihnen ihre wichtigste Lebensgrundlage, die Robbenjagd, nahm. Seither ist die Perspektivlosigkeit der Menschen ebenso hoch wie der Alkoholkonsum, begleitet von einer der höchsten Selbstmordraten Europas. Wer mag, kann diesen temporeichen Thriller auch durchaus dazu nutzen, mal über ernsthaftere Themen nachzudenken.
Autor: Fynn Haskin
Titel: Der Mondmann – Rote Spur
Verlag: Lübbe
Umfang: 399 Seiten
Einband: Taschenbuch
Erschienen: September 2023
ISBN: 978-3-7857-2247-3
Wertung: 12/15 dpt