Carsten Henn – Die Butterbrotbriefe (Buch)


© Piper

37 Briefe. So viel benötigt Kati, um Leb wohl zu sagen. Und das sagt sie allen, die etwas bei ihr hinterlassen haben, im positiven wie im negativen Sinne. Da ist die Kassiererin, die Kati einmal Geld vorgestreckt hat, um Notfall-Rouladen zuzubereiten. Da ist Madame Catherine, weil ihr Salon ein Zuhause ist. Und da ist auch ihr Exmann, der jeden Montag Kohlrabi mit Kartoffeln und Frikadellen isst, während er sich optisch selbst immer mehr einer Frikadelle nähert.

Doch so sehr Kati von dem Willen getrieben ist, mit ihrer Vergangenheit abzuschließen, um ein neues Leben beginnen zu können, so sehr drängen sich ihr Fragen auf, auf die sie keine Antworten erhalten wird.

1 Melodie. So viel benötigt Severin, um herauszufinden, dass Kati der fehlende Klecks auf seinem inneren Gemälde ist. Es ist ein Gemälde, das eine Flussbiegung zeigt mit einem Haus im Hintergrund. Doch wie ein verstimmtes Klavier erzeugt das Bildnis einen Misston. Bis er Kati sieht. 1 Haarschnitt und 1 Buch braucht es, um ihr Herz zu öffnen. Doch um die Hürden zu überwinden, die sich beide selbst gebaut haben, müssen sie ihre Gleichung aufeinander abstimmen.

Carsten Sebastian Henn ist vor allem für die kleine Prise Magie bekannt, die er seinen Geschichten beimischt. Nun verleiht diese Magie den Butterbrotbriefen einen besonderen Geschmack. Feinschmecker wundersamer Begegnungen werden die Neuerscheinung vom Autor des Buchspazierers zu schätzen wissen. Allerdings besteht diesmal die Gefahr, dass Henn zu viel Magie hinzugefügt hat, denn nun wagt er sich ein wenig zu nah an den Rand des Möglichen. Kurz: Dem Roman fehlt der Realitätsbezug.

Es beginnt bei der Protagonistin Kati. Als Enddreißigerin geht sie durch ihren Ort und liest selbst verfasste Abschiedsbriefe vor. Wer sich einmal vorstellt, wie das eine Frau im eigenen Ort tun würde, kommt schnell zu dem Ergebnis: Die Reaktionen sähen anders aus als im Roman.

„Meist verteilt das Schicksal Schläge. Nur selten nimmt es einen in den Arm. So wie die grauhaarige Frau mit den vielen Kummerfalten es jetzt tat, die Kati weinend so fest an sich drückte, als wollte sie nie mehr loslassen. Kati konnte die Tränen spüren, die Tropfen für Tropfen ihre Halsbeuge herunterliefen.“

Kati wird bald von Severin, einem wohnungslosen Klavierstimmer, verfolgt. Er macht ihr anonyme Geschenke, spürt sie in der Stadt auf und steht eines Abends vor ihrer Haustür. Was im Alltag nach einem klassischen Fall von Stalking klingt, ist hier der Beginn einer zerbrechlichen Liebesgeschichte. Jedoch drängt sich der Verdacht auf, dass keine vernünftige Frau abends einen Fremden in ihr Haus lassen würde.

Die desolate Lebenssituation Severins wird darüber hinaus nicht klar genug herausgearbeitet. Severin ist zwar wohnungslos, aber davon bekommen die Leser*innen kaum etwas mit. Er ist nicht von Scham erfüllt. Er friert nicht. Er schwitzt nicht. Seine Zähne sind weiß. Er hat kaum Hunger. Er hat nicht einmal eine Meinung dazu, dass er plötzlich bei Martin wohnt. Fast schon mutet das Leben auf der Straße romantisch an. Es werden weder Gefahren auf der Straße erwähnt noch Risiken für Leib und Seele, denen Obdachlose täglich ausgesetzt sind. Selbst Fragen nach Essenssuche, Unterkunft, Wäschewaschen, etc. werden ausgeblendet. Einzig ein paar abschätzige Bemerkungen von Passanten werden untergemischt.

Spannend jedoch erscheint die Thematisierung von Frauen, die in Rollen gefangen sind. Doch wird die Frage danach, welche Fluchtmöglichkeiten Frauen haben, um das Leben führen zu können, welches sie sich vorgestellt haben, nur angerissen, während gleichzeitig eine Figur geschaffen wird, die an seelischer Grausamkeit kaum zu überbieten ist. Somit klingt dem Text eine Verurteilung bei.

Carsten Sebastian Henns Sprache dagegen scheint zu reifen wie ein guter Wein. So schafft der Autor Metaphern, die nicht nur überzeugend ästhetisch, sondern auch philosophisch daherkommen.

„In einer Welt voller immer schnellerer Bewegungen wurde unsichtbar, wer stillstand.“

Fazit

Die Botschaft des Romans ist transparent. Er handelt von Trauer- und Vergangenheitsbewältigung, und der Rahmen hierfür wurde wunderschön gewählt. Doch leider stößt die Lektüre zu oft an Dingen, die niemals so stattfinden könnten, sodass die übliche Henn-Magie ihre Wirkung verfehlt.

Was zu wünschen bleibt: Eine Gesellschaft, die zurück zu alten Werten findet, um die „Die Butterbrotbriefe“ möglich zu machen.

Autor: Carsten Henn

Titel: Die Butterbrotbriefe

Verlag: Piper

Umfang: 256 Seiten

Einband: Hardcover mit Schutzumschlag

Erschienen: 31.08.2023

ISBN: 978-3-492-07182-6

Produktseite

Wertung: 10/15 dpt


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