Erich Straffer war mal wer. Damals. Gruppenführer, Offizier, Generalleutnant der SS. Er befehligte Hunderte, entschied über Leben und Tod, war eine Respektsperson mit Kontakten von Adolf Eichmann bis Hitler. Rund zwanzig Jahre ist das jetzt her. Und heute?
Straffer arbeitet als Nachtwächter in Fabrikhallen, deren Öfen nie ausgehen dürfen. Die Produktion ist wichtig, schließlich erlebt Deutschland gerade ein Wirtschaftswunder. Man fährt zum Urlaub nach Italien, hat endlich wieder eine große Wohnung. Und Straffer? Sein karges Gehalt lässt wenig Spielraum. Mit Ehefrau Magda und seinen beiden jugendlichen Söhnen lebt er in einer Schuhschachtel. Das Wohnzimmer muss jeden Abend zum Schlafzimmer für die Jungs umgerüstet werden.
Straffers Ehe gerät zunehmend in Schieflage. Magda drängt, Erich möge endlich nach vorne blicken. Machen doch alle. Und Erich? Zieht sich zurück in die Dunkelheit der Nacht, denn er weiß, dass er im Krieg schwere Schuld auf sich geladen hat. Ginge es gerecht zu, müssten Leute wie er im Lager stecken. Mindestens. Stattdessen machen viele die unglaublichsten Karrieren. In der Politik, bei der Justiz, in der Kulturbranche. Überall.
Straffer wartet oder fürchtet seine verdiente Strafe. Aber es waren doch nur Befehle, was sollte er als Einzelner schon machen? So hadert er, zunehmend depressiv, mit seinem Schicksal, welches eine wichtige Wendung erfährt. Ein neuer Arbeitskollege soll ihn unterstützen: Reuben Horovitz. Wo er denn herkäme? Aus Tel Aviv. Was er bislang gearbeitet hätte? Bei der israelischen Armee. Und warum ist er, der Jude, ausgerechnet in Deutschland? Er sucht den Mörder seines Onkels, der im Herbst 1942 im Lager Janischowitz starb. Der damalige Lagerkommandant Thomas Kießner soll dafür sterben. Straffer ahnt, dass die Stunde seiner Bestrafung naht.
Nachdenklich stimmendes Werk
Wolfgang Wissler zeichnet ein düsteres Bild über das Deutschland der 1960er Wirtschaftswunderjahre, in dem man nie sicher sein konnte, ob der Nebenmann an der Theke, der Arbeitskollege oder der freundliche Arzt oder Apotheker im Ort, in Wirklichkeit nicht damals ein Mörder war, der Kriegsverbrechen begangen hat. Oder war man es gar selber, so wie Straffer? Und wenn ja, wie damit umgehen? Verdrängen und nach vorne schauen, sich aufgrund der Gräueltaten in Selbstzweifeln ergehen oder der „guten“ alten Zeit nachtrauern, wo man noch wer war in der Welt?
Es ist eine nach wie vor hochspannende Diskussion. Hitler, Himmler, Göring und Göbbels, sie alle haben sich ihrer Verantwortung durch Selbstmord entzogen. Andere Nazigrößen wurden in Nürnberg verurteilt, zwölf zum Tode. Doch was wurde aus jenen, die beispielsweise in Polen und Russland oder in den Konzentrationslagern die Morde tatsächlich verübten, die Leute ins Gas schickten? Nicht wenige flohen nach Südamerika, die meisten blieben in Deutschland, wo es bald so weiterging, als hätte es das Dritte Reich nicht gegeben. Aus vielerlei Gründen eine schwer vertretbare Situation, zumal die Argumentation, man habe ja nur Befehle ausgeübt, oft fraglich erscheint. Wer nicht mitmachte, sich Befehlen widersetzte, landete vermutlich kurz darauf an der Ostfront, was einem Todesurteil gleichkam. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass viele damals – so wie Erich Straffer – aus Überzeugung begeistert mitliefen; lange vor und während dem Krieg. Da gelten Ausreden nicht mehr.
„Straffers Nacht“ ist ein nachdenklich stimmendes Buch mit Langzeitwirkung über den Roman hinaus. An wenigen Beispielen zeigt sich, wie ehemalige SS-Schergen nach Kriegsende sich ein normales, schönes Leben aufbauen konnten und sich weiter gegenseitig unterstützten. Was dabei zu kurz kommt, ist die Frage, wie man es nach Kriegsende mit dem Aufbau denn hätte besser machen können? Woher die Richter einer neuen Justiz nehmen, wenn weit über 95 Prozent aller Richter zuvor in der NSDAP waren? Gleiches gilt für den Bundesnachrichtendienst und viele andere Bereiche. Es waren ja fast alle dabei und haben sich auf unterschiedliche Arten schuldig gemacht. Gut, nach Kriegsende natürlich nicht mehr. Da waren es dann „die anderen“ oder „man habe ja nur Befehle ausgeführt“. Menschen wie Fritz Bauer oder Fritz Kolbe blieben leider die Ausnahme.
Wem „Straffers Nacht“ zusagt, dem sei auch „Ein böser Kamerad“ von Jörg Reibert empfohlen, der sich ähnlich unheilvoll dem Bösen widmet.
- Autor: Wolfgang Wissler
- Titel: Straffers Nacht
- Verlag: Pendragon
- Umfang: 240 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: August 2023
- ISBN: 978-3-86532-819-9
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Wertung: 12/15 dpt