Ich gestehe, mit diesem Buch habe ich mich schwer getan. Nicht, weil die Autorin etwa keine versierte Schreiberin wäre. Tatjana Gromača ist das zweifellos. Ihr Text ist klug konzipiert, inhaltlich relevant, thematisch zeitlos. Es finden sich viele Zitate, die man besonders hervorheben möchte und die auch ohne Kontext eine wichtige Botschaft transportieren. Nur ist es wichtig, mit der richtigen Erwartungshaltung an diesen Text heranzugehen.
Gromačas autofiktionaler Roman „Die göttlichen Kindchen“ ist kein Roman, der dazu einlädt, einer klassischen Handlung zu folgen und sich emotional vereinnahmen zu lassen. Es gibt keinen Spannungsbogen, keine handelnden Protagonisten. Der Erzählstil ist deskriptiv, nüchtern, fast kühl.
In Bezug auf die realen Ereignisse begnügt sich die Autorin mit sparsamen Andeutungen und verlässt sich auf das historische Hintergrundwissen ihrer Leserschaft.
Auf den ersten Blick geht es um die Mutter der Ich-Erzählerin. Gromača lässt das Leben einer Frau Revue passieren, die im ehemaligen Jugoslawien aufwächst, heiratet, eine Familie gründet und dann miterlebt, wie ihr Heimatland zerbricht, wie Krieg und Genozid die Menschen um sie herum bedrohen bzw. töten. Sie erfährt am eigenen Beispiel, wie der Riss, der plötzlich durch die multinationale Bevölkerung geht, sogar innerhalb ihrer Familie zu Spannungen führt.
Die Erlebnisse setzen der Mutter so stark zu, dass die psychisch labile Frau ernsthaft erkrankt und über Jahre hinweg stationär in einer psychiatrischen Einrichtung behandelt wird.
Die Autorin betont, dass das erzählte Schicksal kein Einzelfall darstellt. Die Mutter repräsentiert eine ganze Generation von Frauen, die die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Die Mutter-Protagonistin wird also zur Symbolfigur, an deren Biografie entlang die Geschichte eines Landes beschrieben wird.
Gromača geht dabei weniger auf die konkreten historischen Fakten des Krieges ein als auf deren Folgen auf die Psyche der Menschen und den Einfluss auf die Gesellschaft. Sie beschreibt den Bruch zwischen erlebter bzw. erlittener Geschichte und dem (Nicht-)Umgang mit dieser.
Die Gräuel des Krieges werden einfach totgeschwiegen.
Der Effekt ist ebenso verstörend wie gefährlich. Die Gegenwart wirkt wie sediert. Die Folge ist eine Gesellschaft, die in großer Unfreiheit lebt.
Genau dieser Umgang mit der Geschichte ist das große Thema des Buches. Gromača protokolliert im ironisch-distanzierten Ton. Die erzeugte Distanz überträgt sich auch auf die Leser:innen. Das Lesen wird zur Kopfsache gemünzt. Es wirkt als ob die Autorin ganz bewusst jedwede Emotionalität aussperren will. Und gerade das kann in gewisser Weise als ein Hinweis auf die Herangehensweise gesehen werden, wie die Autorin sich den Umgang mit der jüngsten Geschichte wünscht. Kühle Reflexion anstelle blinder bzw. blindwütiger Emotionalität. Vorurteilsfreie Darlegung von Fakten anstelle von polemisierender Leugnung. Ausgehend vom Beispiel der Mutter zeigt Gromača, wie unverzichtbar jedwede Aufarbeitung ist. Die Mutter der Ich-Erzählerin reagiert mit psychischer Erkrankung und entwickelt in Folge mangelnder Therapie im Laufe ihres späteren Lebens radikale religiös-fanatische Tendenzen. Die post-jugoslawische Gesellschaft ist ebenfalls „krank“, wovon die neu aufkeimenden nationalistischen Ressentiments zeugen. Der Roman ist ein mahnendes Gesellschaftsporträt. Es geht in ihm weniger um die Geschichte als um den Umgang mit ihr. Dahinter steht der dringende Appell, Geschichte niemals als etwas Abgeschlossenes zu behandeln, sondern in die Gegenwart zu integrieren. Diese Botschaft ist ebenso zeitlos wie top aktuell. Und darum ist der Roman eine große Leseempfehlung wert! Božanska dječica (Die göttlichen Kindchen) brachte TATJANA GROMAČA in Kroatien 2012 den Vladimir-Nazor-Preis für das beste Prosawerk und 2013 den Jutarnji-list-Preis für den besten Roman des Jahres. Der Verlag Stroux edition wurde für nun für die von traduki geförderte Übersetzung durch Will Firth mit der Verlagsprämie des Freistaats Bayern 2022 ausgezeichnet.
Wertung: 11/15 dpt