Ich möchte, dass du dir folgende Situation vorstellst: Du begegnest einem Menschen. Etwas, das du nicht greifen kannst, sorgt dafür, dass du die Nähe dieses Menschen suchst, doch das Umfeld, in dem ihr euch begegnet, lässt keine Nähe zu. Die Gesten, die dieser Mensch macht, berühren dich, obwohl sie von Einfachheit durchzogen sind. Du bekommst Angst vor deinen Gefühlen. Angst vor deinen Bedürfnissen. Angst davor, dass dein Körper nach dem verlangt, was dein Verstand dir verbietet. Tagelang begegnest du diesem Menschen immer wieder. Tagelang kämpfst du gegen dein Verlangen an. Dann schaffst du es schließlich, dich von ihm zu verabschieden. Du bist stark geblieben. Hast deinem Verlangen nicht nachgegeben. Du weißt, dass du den Menschen enttäuscht hast, doch es ist besser so. Er ist erst 16 Jahre alt und du schon 42.
Sieben Wochen lang denkst du an diesen Menschen. Wie er dich berührt hat. Wie er dich angesprochen hat. Wie er sich neben dich gesetzt hat. Und angeschaut. Dann schaust du eines Morgens aus dem Fenster deines Hauses und jetzt ist er da.
Was ist von einem Roman zu erwarten, der gleich mit drei Stipendien gefördert wurde? Hohe literarische Kunst.
„Jetzt bist du da“ ist der siebte Roman der vielausgezeichneten Schriftstellerin Sandra Hoffmann, der nun im Berlin Verlag erschienen ist.
Die Geschichte handelt von dem Aufsuchen des Jugendlichen Janis, der glaubt, sich in seine ehemalige Betreuerin verliebt zu haben. Sie handelt von der Betreuerin Claire, die seine Gefühle teilt, aber ihnen nicht nachgeben darf. Sie handelt von dem vorsichtigen Umkreisen zweier Menschen, die ihre Kreise langsam immer enger ziehen, mal ausschlagen, mal in den Kreis treten, sich nie dabei aus den Augen lassen, während ihre Gedanken rasen von den Möglichkeiten, Risiken, Gefahren und Erinnerungen.
Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil spiegelt Claires Ängste wider, als sie die Ankunft des Jugendlichen bemerkt. Er beinhaltet Erinnerungen, die ihre sexuellen Erfahrungen wie ein Video aus längst vergangener Zeit abspielen. Es wirkt wie ein Album skurriler Beziehungen, die nicht immer Beziehungen waren, und lassen zu oft ein Nachgeben statt wirklich Wollen durchscheinen. Auffällig an diesem Teil ist, dass er aus der Perspektive Claires verfasst ist, jedoch den männlichen Protagonisten Janis direkt anspricht. Claire erzählt in einem inneren Monolog Janis, was sie denkt und fühlt und woran sie sich erinnert.
Im zweiten Teil des Romans treffen die Hauptfiguren aufeinander, stilistisch wie inhaltlich. Die Erzählperspektive wechselt hier zum auktorialen Erzähler und springt von Absatz zu Absatz von Claire zu Janis über. Manchmal so schnell, dass die Leser*innen überlegen müssen, wer gerade spricht oder denkt.
Der dritte Teil schließt den Kreis stilistisch, indem hier wieder aus Claires Sicht geschrieben wird, die für ihre inneren Regungen die Du-Form wählt.
Ein Tag und eine Nacht umfasst die Geschichte. Äußerlich passiert auf den ersten Blick nicht viel. Die Figuren treffen aufeinander. Manchmal verstecken sie sich voreinander. Manchmal wagen sie eine Annäherung. Sie unterhalten sich. Es wirkt idyllisch, wie sie die Zeit im Wald verbringen.
Aber im Inneren passiert so viel, dass Sandra Hoffmann es geschafft hat, diesen Empfindungen, die einem erhofften Wiedersehen oftmals schon vorausgehen, ein gesamtes Buch zu widmen. Um ansatzweise diesem Innenleben gerecht zu werden, ist es nötig, die Protagonisten zu betrachten.
Zum Einen ist da Janis. Er ist Schüler, 16 Jahre alt, hat längere Haare und wird zuerst von Claire für ein Mädchen gehalten. Seine Bewegungen wirken anmutig. Doch als sie ihn zum ersten Mal sprechen hört, wird ihr klar, dass Janis ein Junge ist. Das Besondere an Janis ist seine Fähigkeit zur Empathie. Als Bruder eines Mädchens mit Asperger Syndrom gelingt es ihm, auf die Bedürfnisse seiner Mitmenschen einzugehen, wie beispielsweise bei seinem Mitschüler Johann. Auch entwickelt er ein schnelles Verständnis für den Schutz des Waldes und der Natur. Doch als Janis´ Gedanken zu Wort kommen, erfahren die Lesenden noch viel mehr über diesen besonderen Jungen. Er möchte gefallen. Er möchte spielen, anfangs, verliert jedoch die Kontrolle über dieses Spiel und verliebt sich. Er möchte Claire nahe sein, obwohl er ihr Alter richtig einschätzt. Er ignoriert in seinem jugendlichen Schwärmen die Vernunft und glaubt an die Kraft von Gefühlen. Er erkennt, wenn etwas nicht stimmt. Er wird enttäuscht. Er wird bestätigt. Er gibt nicht auf. Er verliert sich in seiner Vorstellung von einem Happy End.
Claire hingegen wirkt wie sein Gegenpol. Sie ist gesetzt, desillusioniert. Sie macht sich selbst älter als sie ist. Sie hält bewusst Abstand zur Zivilisation und schätzt die Nähe zur Natur. Sie ist sich selbst genug. Sie wird eines Besseren belehrt, als ein Junge überraschend ihre Grenze überschreitet und ein Sehnen in ihr auslöst. Sie ist getrieben von Angst. Wovor? Sie ist geprägt von ihren Erfahrungen. Meistens Schlechte. Sie ist ein Mensch und wird überwältigt von den Gefühlen und dem Verlangen, das Janis in ihr auslöst.
„Sie legt ihre Hände auf die Wangen, als könne sie das schützen, aber es bewirkt das Gegenteil. Augenblicklich erinnert sie sich an eine ähnliche Geste: Janis´ Hand, nur die eine, auf ihrer Haut; wie diese Berührung durch ihren Körper fuhr, ein kleiner Stromschlag, unter dem sie zusammenzuckte, innehielt und doch nicht nur: wie ihr Körper sich verselbstständigte, sogar noch einen Schritt auf den Jungen zumachte.“
Janis und Claire verkörpern zwei unterschiedliche Welten. Mann – Frau. Jung – Nicht mehr ganz so jung. Romantisch – sachlich. Einzig ihre Sehnsucht eint beide miteinander, doch haben beide Charaktere unterschiedliche Verpflichtungen, innerhalb dieser sie mit ihrer Sehnsucht umzugehen haben.
Das Setting ist dabei so klug gewählt, dass man sich wünscht, dass nun etwas zwischen den Protagonisten passiert. Trotz aller Unterschiede. Der Wald als Heimat von Tieren und Pflanzen schottet das ungleiche Paar von neugierigen Blicken von außen ab. Es gibt Dunkelheit, ein Sternenzelt. Ein einsames Haus mitten im Wald, das die Sehnsucht der Lesenden erweckt und den Wunsch nach einem romantischen Abenteuer auslöst. Er wirkt verklärt in seiner Darstellung und fast irreal in seiner Schönheit, die gleichzeitig rau und schmutzig sein kann. Doch er dient als Hintergrundkulisse einer Begegnung, die eine Liebesgeschichte werden kann.
Fazit
„Jetzt bist du da“ ist ein Roman, dessen Wucht nicht nur seine Figuren überwältigt, sondern ebenso seine Leser*innen. Es ist die Mikroanalyse einer Begegnung und ihrer Möglichkeiten in einem Kosmos, der es der Vernunft nur umso schwieriger macht. Es ist eine Geschichte der leisen Töne, der Nuancen und der Rebellion im Inneren, die vor den anderen oftmals verborgen bleibt. Ein wunderbares Leseerlebnis!
- Autorin: Sandra Hoffman
- Titel: Jetzt bist du da
- Verlag: Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH
- Erschienen: 29.06.2023
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Seiten: 240
- ISBN: 978-3-8270-1494-8
Wertung: 15/15 dpt