Verstörende Bekenntnisse. Drogenexzesse. Sexuelle Ausschweifungen. Partys. Suizidversuche. Ein Anschlag mit zwei Schüssen.
Wir schreiben das Jahr 1966. Wir befinden uns in New York, die Stadt, in der alles möglich ist. Möglich scheint. Unmögliches entsteht. Wie hier, in der Factory.
Er ist eine Sonne. Sein Licht strahlt auf andere über, dabei wirkt er seltsam abwesend. Seine Stimme ist selten. Selten gesprochen. Selten gehört. Aber wenn sie erklingt, ist sie gottgleich. Einmal meldet sie sich aus dem Off. Sonderbar und fremd.
Alle kommen zu ihm. Wollen von seiner Wärme und seinem Licht abbekommen. Sich darin suhlen, auf Sofas, die durchgesessen sind von ihren Vorgängern, die schon zuvor an diesem Vorhaben gescheitert sind.
Irgendwann nimmt alles Fahrt auf. Ein Umzug, Hektik, Geständnisse, Verzweiflung. Zwei Schüsse.
Heute nennen sie immer noch seinen Namen. Er klingt europäisch, auch wenn er abgekürzt ist. Sie stellen gemalte Konservendosen aus. Eine Schauspielerin in schrillen Farben.
Alles dreht sich um ihn, besonders im Jahr 1966. Dabei bleibt er merkwürdig abwesend. Andy Warhol.
Mae ist 17, als sie beschließt, die Schule zu verlassen und sich von ihrer versoffenen Mutter unabhängig zu machen. Selbst Mikey, der aus Überzeugung nicht arbeitet, gewagte politische Theorien vertritt und ab und an bei ihnen zu Hause lebt, kann sie nicht halten.
Sie beginnt ihre Unabhängigkeit mit den Rolltreppen. Egal ob bei Macy´s oder Bloomingdale´s – sie fährt sie rauf und runter, den ganzen Tag, bis sie auf jemanden trifft, der beim Vorbeifahren ihre Hand streift. Diese Berührung löst eine Kette von Ereignissen aus, die das Rolltreppenfahren beendet. Denn Mae gelangt an einen Job, von dem niemand weiß, was er eigentlich bedeutet.
Sie soll tippen. Ihr werden unsinnige Briefe diktiert. Während ihrer Arbeit beobachtet sie die jungen Menschen, die sich in der Factory bewegen, als gehörten sie hierher. Als lebten sie hier. Immer wieder kommen neue Menschen. Grazil, benebelt, schön. Männer und Frauen. Und Mae wird sich ihrer Unzulänglichkeit bewusst.
Eines Tages wird ihr Arbeitsplatz vor ein Tonbandgerät verlegt. Ihre Aufgabe ist es von nun an, zu hören und zu tippen. Es soll ein Buch werden.
Das, was sie dort hört, nimmt sie mit in einen Sog aus Leidenschaft, Abhängigkeit, Abneigung und Zerstörung. Einzig ihre Kollegin Shelley gibt ihr Kraft. Denn Shelley ist nicht so wie die Menschen auf den Sofas.
»Nichts Besonderes« ist eine merkwürdige Geschichte. Im doppelten Sinne. Merkwürdig in der Form, dass sie es würdig ist, sie sich zu merken. Merkwürdig in Form von seltsam. Dieser Aspekt beginnt bei der Protagonistin Mae.
Mae ist 17 Jahre alt, Tochter einer Mutter, die in einem Diner arbeitet, schön ist und trinkt. Die Familie ist arm, die Wohnung heruntergekommen. Mae wirkt wie die Reinkarnation einer 50-Jährigen in einem jugendlichen Körper. Sie ist desillusioniert, hat keinerlei Ziele, und ihr Humor ist schlichtweg nicht vorhanden, dafür aber von Zynismus ersetzt. Sie ist – um es deutlich auszudrücken – abgefuckt. Das zeigt sich vor allem darin, als sie nach einem Streit mit ihrer Mutter ihr Zuhause verlässt und sich für jede Nacht einen neuen Liebhaber sucht, um eine Bleibe für die Nacht zu haben.
»Ende August waren meine Möglichkeiten praktisch auf ein Nichts zusammengeschrumpft. Viel zu lange hatte ich geglaubt, ich hätte in dieser Welt, in dieser Stadt nichts als Möglichkeiten – aber das stimmte nicht. Diese Erkenntnis kam mir sehr viel später, als sie Shelley gekommen sein dürfte. Ich wusste nicht, vor welchen Möglichkeiten sie so stand, vielleicht ja vor den gleichen wie ich. Wo konnte man schlafen, wo einen Drink bekommen, wo sich die Zähne putzen, wo jemanden finden, den man einen Abend lang ertrug.«
Shelley dagegen ist anders. Sie trägt altmodische Kleidung, arbeitet zielgerichtet und gibt nichts von sich preis. Doch sie nimmt ihre neue Freundin mit, um ihr das Leben in New York zu zeigen. Sie gehen gemeinsam auf Partys, zum Bowlen oder ins Kino. Nur manchmal merkt Mae ihrer Kollegin an, dass auch sie nicht unberührt bleibt von den Tonbändern, die sie niederschreiben müssen. Sie sind grundverschieden, doch in ihrer Normalität gegenüber den schillernden Persönlichkeiten gleich.
Der Roman handelt von der Episode der Freundschaft dieser beider Frauen. Sie ist einzig geprägt von dem soghaften Umfeld der Protagonistinnen. Im Atelier Andy Warhols finden sich Schauspieler*innen zusammen, die hoffen, durch den »Meister« berühmt zu werden. Dabei folgen sie einer Abwärtsspirale aus Partys, Sex, Drogen und Suizidversuchen.
Vor diesem Hintergrund wirken die beiden Mädchen Mae und Shelley wie Fremdkörper, kommen sie trotz ihrer prekären familiären Verhältnisse aus einem gesetzteren Umfeld. Doch die Leser*innen können verfolgen, wie auch diese fast noch unschuldigen Figuren der Anziehung Andy Warhols und seiner Welt nicht widerstehen können. Sie kommen ihm nie nahe. Doch sie lassen sich hineinfallen in das künstlerische Dahintreiben der Szene, die ihnen ihre Unschuld nimmt.
Spannend ist die Thematisierung von Heroisierung. Andy Warhol – liest man den Klappentext nicht, erfahren die Lesenden erst im letzten Drittel, um wen es sich eigentlich handelt – wird dargestellt wie eine Art Gott. Er ist der Angelpunkt allen Geschehens, obwohl er nichts tut, außer seinen Beschäftigungen nachzugehen, die nie deutlich beschrieben werden. Einzig auf den Tonbändern wird eine seiner Arbeiten näher erläutert. Darauf reden Menschen. Sie reden und reden und verlieren sich in Monologen und Geständnissen und verzweifeln und erzählen ihm alles, während er dabei nichts sagt. Aus diesen Fetzen aus Gebrabbel und Hintergrundgeräuschen soll ein Buch entstehen, das Mae und Shelley abtippen sollen. Trotz wochen- und monatelanger Arbeit und aller Leidenschaft, die sie hineinlegen, müssen sie jedoch einsehen, dass ihr Name nirgends auf dem Buch zu finden sein wird.
Fazit
»Nichts Besonderes« ist merkwürdig. Wer hier auf schnelle Action, heiße Liebesszenen und große Dramen hofft, kommt nicht auf seine Kosten. Doch wer es mag, in einen Strudel hineingezogen, der die Emotionen durcheinanderbringt, wer authentische Gedanken und Gefühle beim Lesen zu schätzen weiß, wer das hässliche New York der 1960er kennenlernen möchte – der wird diesen Roman lieben.
- Autorin: Nicole Flattery
- Titel: Nichts Besonderes
- Original Titel: Nothing Special
- Verlag: Hanser Berlin in der Hanser Verlag GmbH & Co.KG
- Erschienen: 24. Juli 2023
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Seiten: 272 Seiten
- ISBN: 978-3-446-27728-1
- Produktseite
Wertung: 12/15 dpt