Kampf ums Überleben im Hinterland
April 1978. John Chamberlain lockt ein neuer Job von London, England, nach Wellington, Neuseeland. Doch bevor es losgeht, möchte er seiner Frau Julia sowie den Kindern Katherine, Maurice und Tommy zunächst zwei Wochen die West Coast zeigen, die von dichten Regenwäldern und Gletschern geprägt ist. Bei starkem Monsunregen verliert John für einen Moment die Kontrolle über seinen Wagen, der sogleich über eine Klippe in die Tiefe und in einen Fluss stürzt. Die Eltern und das kleine Baby sind sofort tot, nur die drei Kinder überleben. Aber wie geht es weiter? Der starke Regen hat bereits alle Spuren eines Unfalls verwischt, durch den dichten Wald sind sie von der Straße aus nicht zu sehen und die steile Klippe können sie selber nicht hinaufklettern.
Zwei Tage später findet sie Peters, ein Mann mit Dreadlocks und auch sonst eher ungepflegter Erscheinung und nimmt die Kinder mit auf seine abgelegene Farm, die er gemeinsam mit Martha bewirtschaftet. Der Unfall hat Folgen hinterlassen. Maurice hat sich ein Bein derart stark verletzt, dass er auf Krücken angewiesen ist und Tommy hat eine Beule am Kopf oder wie Martha sich ausdrückt einen dauerhaften „Dachschaden“, so dass er kaum mehr ansprechbar ist und sich wie ein Kleinkind verhält.
Martha kümmert sich aufmerksam um die Kinder, doch vor allem Maurice möchte unbedingt nach Hause. Man müsse ja nur einen Arzt rufen, um ihm zu helfen. Ob man ihren Heilkünsten misstraue, fragt Martha aufgebracht. Schon bald merken Maurice und Katherine, dass man sie so schnell nicht wieder gehen lassen wird, denn kostenlose Arbeitskräfte sind Martha und Peters willkommen.
„Hast du da draußen irgendwo Kabel oder Telefonmasten gesehen? Wir sind hier mitten in den Wop-wops, Mädchen.“
„Ich weiß nicht, was das ist.“
„Im Hinterland. Am Arsch der Welt.
November 2010. Suzanne Taylor, die ältere Schwester von Julia, erhält einen Anruf von der New Zeeland High Commission in London, in der man ihr mitteilt, dass man die sterblichen Überreste von Maurice Chamberlain gefunden habe. Bei seinem Tod muss er siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen sein und somit noch vier Jahre nach seinem Verschwinden gelebt haben.
Lakonisch und eindringlich erzählt
In „Kerbholz“ erzählt Carl Nixon, den man womöglich durch seinen 2012 erschienenen Roman „Rocking Horse Road“ kennen könnte, – dieser stand damals wie „Kerbholz“ aktuell auf der KrimiBestenListe – eine eindringliche Geschichte über Familie, Verlust und die (Un-)Fähigkeit zur Anpassung.
„Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde.“
Was für ein erster Satz in einem Roman? Intensiv stellt Nixon die gewaltige Natur im Hinterland Neuseelands den ebenso ausgeprägten Gefühlen seiner Figuren gegenüber. Zu Beginn eines Kapitels gilt es, das angegebene Datum beziehungsweise den genannten Zeitraum zu beachten, denn der Plot arbeitet mit zahlreichen Vor- und Rückblicken. Da gibt es besagten Unfall und das anschließende Leben auf der Farm sowie die Suche der Tante Suzanne, die nach dem Verschwinden ihrer Schwester wiederholt Neuseeland bereist hat. Dazu noch der aktuelle Leichenfund.
„Aber das solltest du nicht. Sonst machst du dir nur Hoffnung.
Die vermeintlichen Fragen lauten natürlich, wie die Kinder mit der neuen Situation umgehen, ihnen die Flucht aus ihrem Gefängnis gelingt und ob es letztlich ein Wiedersehen mit Suzanne geben wird? Zunächst einmal gehen alle drei Kinder mit der Situation ganz unterschiedlich um. Die Eltern sind tot, niemand wird sie so schnell suchen und da die nächste Stadt angeblich weit weg ist, ist keine Rettung zu erwarten. Die zwölfjährige Katherine akzeptiert nach und nach die Lage, versteht sich mit Martha zunehmend besser und lebt sich auf der Farm ein, wenngleich das Leben hart und entbehrungsreich ist. Kein Strom, kein fließendes Wasser, dafür aber massig Arbeit. Maurice, der mit seinem verletzten Bein hadert und dauerhaft auf seine Krücken angewiesen sein wird, ist schnell aufbrausend und will nur weg, schließlich ist er kein Arbeitssklave und Peters ihm nicht geheuer. Und Tommy? Der denkt gar nichts mehr, lebt in seiner eigenen Welt.
Der Erzählstill von Nixon ist lakonisch und eindringlich und wenngleich die Handlung kaum voranzukommen scheint, so will man doch unbedingt weiterlesen. Immerhin versucht Maurice zu fliehen, doch die Krücken bremsen ihn aus, Peters Hunde nehmen problemlos seine Spur auf. Suzanne sucht wiederholt in Neuseeland ihre Angehörigen, worüber ihre Ehe mit William zerbrechen wird. Nach rund dreihundert Seiten ist der böse Spuk vorbei und alle Schicksale sind „aufgelöst“. Nicht alle werden hier einen „Krimi“ entdecken, weswegen Platz 9 auf der KrimiBestenListe im Juni 2023 einige überraschen dürfte. Spannend wie ein Krimi ist „Kerbholz“ aber allemal und – unter uns – man kann und sollte den Roman als „Outback Noir“ einstufen; eine moderne Untergattung des Kriminalromans. Leser von Jane Harper („Hitze“) oder zuletzt Peter Papathanasiou („Steinigung“) dürfen jedenfalls zugreifen.
- Autor: Carl Nixon
- Titel: Kerbholz
- Originaltitel: The Tally Stick. Aus dem Englischen von Jan Karsten
- Verlag: CulturBooks
- Umfang: 304 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Mai 2023
- ISBN: 978-3-95988-156-2
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Wertung: 13/15 dpt