Ein viel bemühter Satz fasst dieses Buch wohl am besten zusammen: “Der Weg ist das Ziel”.
Bei “Der Salzpfad” von Raynor Winn handelt es sich um eine wahre Geschichte und gleichzeitig um einen Reisebericht über die wilde Schönheit des South West Coast Path in England, gewürzt mit einer Portion Gesellschaftskritik.
Tatsächlich liest sich das Buch aber weniger wie ein Reisebericht, sondern spannend wie ein Roman. Das Wissen darüber, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, macht die Geschehnisse an manchen Stellen umso bedrückender und vor allem zu Beginn habe ich mich gefragt, wie zwei Menschen das Unglück so sehr für sich gepachtet haben können. Raynor Winn beschreibt eindrücklich, wie einem das Leben den Boden unter den Füßen wegzuziehen vermag und man plötzlich alles verliert. Anstatt zu resignieren machen sich die Autorin und ihr Mann auf eine Wanderung auf dem South West Coast Path, der sich über 1000 km erstreckt. Alles was sie besitzen passt in zwei Wanderrucksäcke und monatlich stehen ihnen maximal fünfzig englische Pfund zur Verfügung.
Im Vordergrund der Geschichte steht dabei immer wieder das Gefühl der absoluten Entwurzelung und der Enttäuschung in langjährige Freundschaften, die ihren Teil zum Unglück der beiden beitragen.
“Du kannst nicht krank sein, ich liebe dich doch!” Als wäre es genug, ihn zu lieben. Es hatte immer genügt, mehr hatte ich nie gebraucht, aber jetzt würde es uns nicht retten.
Klingt zunächst nach einem Selbstexperiment, das von Kameras begleitet würde und wonach sich die Wanderer wieder in ihr sesshaftes und sicheres Leben zurückbegeben. Für Raynor und ihren Mann Moth stellt das aber keine Möglichkeit dar und sie gewöhnen sich nur langsam an die Selbstbezeichnung als “Obdachlose”. Bzgl. Obdachlosigkeit an sich gibt es zusätzlich zur Geschichte auch wissenschaftliches und historisches Faktenwissen und auch, wenn Raynor und Moth auf ihrem Weg unter anderem schöne Erfahrungen machen, einen Gewinn aus ihren Erfahrungen ziehen und die großen Städte meiden, versucht die Autorin Obdachlosigkeit nicht zu glorifizieren. Kleine Anmerkung meinerseits: Meines Wissens nach wäre der korrekte Begriff “Wohnungslosigkeit”. Sehr eindrücklich fand ich die unterschiedlichen Reaktionen der Menschen, die den beiden begegnen und dass diese in Sekundenschnelle von bewundernd, weil die beiden sich Zeit fürs Backpacking nehmen, zu ablehnend und abwertend schwankten, wenn klar wurde, dass am Ende des Weges kein gemütliches Heim auf sie wartet. Wochenlang nicht zu duschen und zu hungern scheint “cool” und akzeptabel zu sein wenn es eine freie Entscheidung ist. Wenn ein Mensch aber dazu gezwungen ist, ist er scheinbar nicht mehr Teil der Gesellschaft.
“Die Angst vor Obdachlosigkeit is heute so verbreitet wie eh und je, und es hält sich die Meinung, dass solche Menschen automatisch alkoholsüchtig, drogenabhängig oder psychisch krank sein müssen. Obwohl diese Probleme bei Odachlosen häufig vorkommen, sind sie ebenso die Folge der Obdachlosigkeit wie deren Ursache.”
Wer schonmal an der cornischen Küste war, wird die Landschaftsbeschreibungen, die auch sehr eindrücklich das britische Wetter einbeziehen, gut nachempfinden können. Tatsächlich war es für mich nach meinem Besuch in Newquay vor ein paar Jahren ein besonderer Anreiz dieses Buch zu lesen. Letztendlich geschenkt hat es mir dann eine liebe Freundin, die einen Teil des South West Coast Path diesen Sommer selbst gegangen ist. Nach der Lektüre des Buches weiß ich aber, dass es für mich erst noch ein verbessertes Fitnesslevel braucht, bis ich den Weg irgendwann mal in Angriff nehme. Raynor Winn ist zunächst nämlich auch dem gleichen Trugschluss wie aufgesessen, dass ein Küstenpfad bestimmt nicht viele Steigungen haben dürfte. Tatsächlich ist aber, den Beschreibungen im Buch nach, an vielen Stellen genau das Gegenteil der Fall.
Trotzdem zieht es Raynor und Moth wieder an genau diese Küste und das Buch ist letztendlich auch eine Liebeserklärung an dieses wunderschöne Fleckchen Erde.
“Nachdem wir monatelang im Landesinneren hatten ausharren müssen, an einem Ort ertrunken waren, der uns nicht halten konnte, erfüllte mich die Rückkehr zum unerreichbaren Horizont mit purer Freude.”
Aber nicht nur der englischen Küste erklärt Raynor Winn ihre Liebe – das gesamte Buch ist die Darstellung der tiefen und wunderschönen Partnerschaft zwischen Raynor und Moth und der unbändigen Liebe, die sie füreinander empfinden. So schön und wunderbar, dass ich zwischenzeitlich Tränen in den Augen hatte und trotzdem niemals kitschig oder (Gott bewahre!) “spicy”.
“Ich möchte, dass du meine Asche in einer Schachtel aufbewahrst, und wenn du stirbst, können dich die Kinder dazugeben, uns einmal kräftig durchschütteln und dann auf die Reise schicken. Zusammen. Das quält mich am meisten, der Gedanken, von dir getrennt zu sein. Sie können unsere Asche an der Küste im Wind verstreuen, dann fliegen wir gemeinsam zum Horizont.”
Letztendlich ist dieses Buch eine absolute Empfehlung für jeden, der die britische Küste liebt und die Geschichte einer großartigen Liebe mit viel Humor gewürzt, lesen möchte.
Es handelt sich hierbei um einen ersten abgeschlossenen Teil. Zwei Fortsetzungen zu folgenden Lebensabschnitten von Raynor und Moth sind bereits auf deutsch erschienen.
- Autor: Raynor Winn
- Titel: Der Salzpfad
- Teil/Band der Reihe: 1 von (bisher) 3
- Originaltitel: The Salt Path
- Übersetzer: Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair
- Verlag: Goldmann
- Erschienen: 2021
- Einband: Paperback
- Seiten: 414
- ISBN: 978-3-442-14268-2
- Sonstige Informationen:
- Produktseite
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 11/15 dpt