Wieder heißt es Mitleid haben
Melvil und Luisa Hammett hatten schon bessere Ehezeiten. Sie, die Leiterin eines Labors für bioethische Forschung; er, der Arbeitslose, der partout keinen Job finden will. Betonung auf „will“. Ein Urlaub am Meer soll wieder Schwung in die Beziehung bringen, Erholung hat noch immer geholfen. Also auf nach Italien, Sizilien, genauer Taormina, jene beeindruckende Hügelstadt an der Ostküste Siziliens. Doch die Reise fängt schon schlecht an. Auf der Autobahn vom Flughafen zum Hotel sieht Melvil ein Schild mit einem Sonnenschirm und hofft auf einen kurzen Abstecher zum Meer. Schließlich ist man deswegen auf der Insel. Die Abfahrt erweist sich als unfertige Baustellenzufahrt, wenig später entdeckt man immerhin eine Snackbar. Vom Meer ist allerdings nichts zu sehen. Irgendwo muss es aber ja sein, ein kurzer Spaziergang vielleicht? Melvil und Luisa verlieren die Zeit aus den Augen. Plötzlich wird es dunkel, es beginnt zu regnen und schon kann man kaum noch die Straße erkennen. Plötzlich ein starker Stoß gegen das Auto. Melvil hält an, steigt aber nicht aus und fährt nach kurzer Pause einfach weiter. Allerdings in die falsche Richtung und landet in Gravinnelle, einem kleinen Dorf, wo man kurzerhand übernachtet. Im Auto statt im bezahlten Vier-Sterne-Hotel. Melvil möchte nicht in der Nacht im Hotel ankommen und dem Personal erklären müssen, warum das Auto einen Unfall hatte. Am nächsten Tag in Taormina angekommen entscheidet Melvil, den Leihwagen reparieren zu lassen. Hotelkellner Roberto kennt einen zuverlässigen Mechaniker. Seinen Onkel. Doch die Lage hat sich überschlagen, denn die Zeitung berichtet von einem Unfall, der sich nachts in Agrigent ereignet habe. Ein Kind, noch dazu ein Flüchtlingskind, wurde von einem Auto erfasst. Das Kind ist tot, vom Fahrer fehlt jede Spur.
Ein schlanker, aber lesenswerter Roman
Melvil erzählt von dem geplanten Urlaub, der die Beziehung zwischen ihm und seiner Frau retten soll. Wer die schlanken Romane von Ives Ravey kennt, der ahnt, dass einiges schiefgehen wird und man als Leser einmal mehr tatenlos zusehen muss, wie sich der jeweilige Pechvogel, hier Melvil, durch Fehlverhalten und falsche Entscheidungen immer tiefer reinreitet. So war es bei den früheren Werken „Bruderliebe“ (2012), „Ein Freund des Hauses“ (2014) sowie dem in 2022 erschienenen Werk „Die Abfindung“. Wenige Seiten, überschaubare Handlung und gleichwohl viel zu entdecken. Ein beeindruckender Minimalismus, den die Werke des mehrfach ausgezeichneten Autors auszeichnen. Auch sein aktuelles Werk wurde in Frankreich für mehrere Preise nominiert.
Die Urlaubsreise von Melvil und Luisa ist von Beginn an gereizt. Wegen nahezu jeder Kleinigkeit kommt es zum Streit, nicht selten endet dieser damit, dass Melvil seiner Frau ein gewisses Verhalten „befiehlt“. Durch besagten Unfall wird es nicht besser, denn hätte man nicht wenigstens nachsehen können, was passiert ist? Vielleicht ein verletztes Tier oder, Gott bewahre, ein Kind. Womöglich gar der Flüchtlingsjunge, der jetzt tot ist. Statt den Unfall der Polizei zu melden, kommt noch Fahrerflucht obendrauf. Aber die Werkstatt wird es schon richten. Die Leser von Ravey wissen es besser. Lakonisch und mit tiefsinnigen Humor, lässt Ravey seinen tollpatschigen und ängstlichen Protagonisten durch die Handlung stolpern. Fehleinschätzungen und damit einhergehend Fehlentscheidungen geben sich die Hand, es ist zum Jammern. Oder lachen. Nach gut zwei Lesestunden wird man erlöst. Im Gegensatz zu den Helden dieser unterhaltsamen Geschichte.
- Autor: Yves Ravey
- Titel: Taormina
- Originaltitel: Taormine. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
- Verlag: Liebeskind
- Umfang: 112 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Juni 2023
- ISBN: 978-95438-168-5
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Wertung: 11/15 dpt