Ermittler mit Asperger-Syndrom
Detective Sergeant George Cross von der Major Crime Unit der Avon and Somerset Police wird in einen Park in Bristol gerufen, wo die Leiche des obdachlosen und strangulierten Lenny gefunden wurde. Doch allein schon die Identifizierung der Leiche stellt die Ermittler vor große Probleme, dann stellt sich heraus, dass Lenny eigentlich William heißt, genauer William Carpenter, ein Zahnarzt, der vor sieben Jahren für tot erklärt wurde. Am Abend des Mordes gab es einen handfesten Streit zwischen Lenny und dem Obdachlosen Badger, bei dem es sich um einen mit zahlreichen Orden ausgezeichneten Corporal handelt. Doch dieser kann sich zunächst an kaum etwas erinnern, zu stark war der Alkoholkonsum. Für die Polizei ist der Fall klar, ein Streit unter Obdachlosen ist eskaliert. Aber Cross wäre nicht der erfolgreichste Ermittler, würde er nicht auch hier mehr vermuten. Was seine Aufmerksamkeit erregt ist eine Plastiktüte mit sechs Dosen Cider, die bei Lennys Leichnam gefunden wurde. Kein Obdachloser hätte diesen wertvollen Besitz zurückgelassen.
Es fehlt an Spuren und Zeugen und erst nach Klärung von Lennys Identität ergeben sich erste spärliche Hinweise. Seine drei Schwestern sind heillos zerstritten und dann wäre da noch ein ungelöster Mordfall, der viele Jahre zurückliegt. Damals wurde Lennys Frau ermordet, ein polnischer Bauarbeiter nach Geständnis verhaftet, welches später widerrufen wurde. Besonders auffällig bei den damaligen Ermittlungen war das Verhalten des leitenden Ermittlers und späteren DCI Stuart Macdonald, der jeder noch so winzigen und vor allem abwegigen Spur nachging. Die einzig greifbare Spur verfolgte er indessen nicht.
Cross und seine Partnerin DS Josie Ottey wollen den Mord an Lenny umfangreich ermitteln, derweil ihrem Vorgesetzten Carson die Verdachtsmomente gegen Badger für eine Anklage ausreichen. Eine Situation mit der sich der unter dem Asperger-Syndrom leidende Cross überhaupt nicht arrangieren kann. Für ihn muss alles seine Ordnung haben und dies mindestens hundertprozentig.
Nur kleine Schwächen trüben den Lesespaß
Tim Sullivan legt mit „Der Kriminalist“ (englisch „The Dentist“) einen verheißungsvollen Serienstart hin, was allerdings weitgehend dem außergewöhnlichen Protagonisten Cross geschuldet ist. Dementsprechend orientiert sich der Plot auch streng an dessen Ermittlungen, wobei der besondere Reiz die Auswirkungen des Asperger-Syndroms sind, die ausführlich beschrieben werden und oft zu unfreiwilliger Situationskomik und schrägen Dialogen führen. Soziale Kontakte oder menschliche Gefühle sind Cross fremd, ein „Danke“ an die neue Auszubildende für erbrachte Informationen unmöglich. So wundert es nicht, dass niemand mit Cross zusammenarbeiten möchte einschließlich seiner Partnerin Ottey, eine schwarze, allein erziehende Mutter, die jedoch nicht selten bewundert, wie Cross mit seinen Methoden und Eingebungen immer wieder zu überraschenden Ergebnissen kommt. Er ist halt der Beste, sehr zum Verdruss seiner Vorgesetzten, denen er mit seinem Verhalten ständig, wenngleich unfreiwillig, vor den Kopf stößt. Anweisungen müssen halt präzise sein, sonst wird es eng.
„Was genau? Dass wir den ersten Mord nicht aufgeklärt haben oder dass wir beim zweiten den falschen Mann in Gewahrsam haben?“
„Werden Sie nicht pampig, George.“
„Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.
Neben den Auswirkungen des Asperger-Syndroms werden die polizeilichen Ermittlungen, die monatelang auf der Stelle treten, haarklein beschrieben. Wer das mag, liegt hier richtig, wer zumindest ansatzweise Action sucht hat Pech. Als Debüt mehr als bemerkenswert, wenngleich kleinere Schwächen den Lesespaß ein wenig trüben.
So arbeitet Cross wahlweise für die MCU der Polizei von „Avon und Somerset“ (Seite 14) oder „Somerset und Avon“ (nur drei Seiten später) und welchen Dienstrang sein Vorgesetzter Carson hat, darf man ebenfalls aussuchen: Detective Chief Inspector oder nur Detective Inspector? DCI laut Seite 19, DI laut Seite 34. Was aber wirklich ärgerlich ist, ist der alte Cold Case, der laut Buchrücken fünfzehn Jahre zurückliegt. Dies kann anhand der Zeitangaben zu Lennys letzten Jahren rechnerisch nicht stimmen. Ohne „zu spoilern“ nur so viel: „… vor zwanzig Jahren ermordet…“ (Seite 140), „… vor fünfzehn Jahren …“ (Seite 248). Diese – sagen wir – Ungenauigkeiten hätten durchaus auffallen „können“, beispielsweise bei der Übersetzung oder beim Lektorat. Immerhin, der deutsche Titel „Der Kriminalist“ geht in Ordnung und bezieht sich – zudem als Oberbegriff einer neuen Serie – auf den Protagonisten, der Originaltitel „The Dentist“ hingegen auf das aktuelle Mordopfer.
Der zweite Band ist für Januar 2024 angekündigt. Man darf gespannt sein.
- Autor: Tim Sullivan
- Titel: Der Kriminalist
- Originaltitel: The Dentist. Aus dem Englischen von Frauke Meier
- Verlag: blanvalet
- Umfang: 512 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Januar 2023
- ISBN: 978-3-7341-1169-3
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Wertung: 11/15 dpt