Rebecca F. Kuang – Babel (Buch)


R. F. Kuang - Babel
© Eichborn

Robin Swift, ein ärmlicher Junge aus dem chinesischen Kanton, wird von dem britischen Gelehrten Professor Richard Lovell gerettet, nachdem er seit Tagen mit der Leiche seiner Mutter in einem Raum verbracht hat. Lovell bringt ihn nach Großbritannien, wo er Unterricht in Griechisch und Latein erhält. Die Tage mit Lovell sind streng und von einer Distanz geprägt, die unüberwindbar scheint. Erst mit Robins Umzug nach Oxford, wo er im sogenannten Turm von Babel zum Übersetzer ausgebildet wird, lernt der Junge aus China kennen, was Freundschaft bedeutet. Zusammen mit dem Inder Ramy, der Haitianerin Victoire und Letty kämpft er sich durch die harten Studien der Übersetzung. Doch der wahrgewordene Traum entfaltet schon bald seinen Schrecken. Denn was als bloße Forschung aussieht, ist mit der Unterwerfung ganzer Nationen verbunden.

Brillant. Mitreißend. Eindringlich. So wird das Werk der preisgekrönten Autorin Rebecca F. Kuang angepriesen. Was steckt dahinter?

„Babel“ ist ein Fantasyroman. Trotz seiner zahlreichen historischen Persönlichkeiten und Ereignisse handelt es sich um eine Geschichte, die eindeutig dem Fantasy-Genre verschrieben ist. Denn obwohl es in erster Linie um Übersetzung geht, geschieht dies hier in Verbindung mit Silber. Passende Wortpaare in unterschiedlichen Sprachen werden auf einen Silberbarren eingraviert, um somit einen bestimmten Effekt zu erzeugen. Dies kann die Verstärkung eines Fundaments sein, die Beschleunigung des Abwassers oder auch eine tödliche Explosion. Großbritannien befindet sich im 19. Jahrhundert so sehr in Abhängigkeit von seinen Silberbarren, dass es Oxford gelungen ist, zum Zentrum aller Macht zu werden.

Silber und Sprachen sind die Basis dieser Macht. Je mehr Silber die britische Insel besitzt und je gewandter die Übersetzer in den Studien der Sprachen sind, umso überlegener ist das Imperium gegenüber anderen Nationen.

Professor Playfair, einer der renommierten Dozenten, bezeichnet ihr Tun nicht umsonst als Magie.

Dies ist jedoch der einzige Aspekt, der „Babel“ zum Fantasybuch macht. Doch es lohnt sich, einen Blick auf die anderen Seiten dieser Geschichte zu werfen.

„Babel“ ist nichts anderes als eine gewaltige Gesellschaftskritik, die gleich mehrere große Themen des 19. Jahrhunderts fokussiert, welche bis heute ihre Aktualität nicht verloren haben:

Anhand der Studenten Robin, Victoire und Ramy erhalten die Leser*innen einen Eindruck davon, wie es ist, als Menschen mit Migrationshintergrund in einem Land zu leben, welches sich hauptsächlich von seiner eigenen Überheblichkeit nährt. Einerseits wird den Protagonist*innen eingeredet, dass es Menschen mit niederer, unzivilisierter Abstammung gäbe, zu denen sie nicht gehörten, solange sie für Babel arbeiteten. Andererseits erfahren sie täglich Fremdenhass, sei es, indem sie zu Treffen eingeladen werden, wo sie wie ein Tier ausgestellt werden. Sei es, indem sie für die Reinigungskraft gehalten werden. Fremdenfeindlichkeit zeigt sich hier in sämtlichen Nuancen. Dabei erscheint die Palette von kleinen Feinheiten bis hin zum offenen Nationalismus unendlich lang.

Ein weiteres großes Thema, welches Kuang aufgenommen hat, ist der Kolonialismus, der direkt an den gelebten Fremdenhass angelehnt ist. Steht Großbritannien im Roman nur beispielhaft für die Unterdrücker, so zeigt die Autorin doch auf, welche verheerenden Folgen der Kolonialismus für die unterdrückten Länder hat. Die Zerstörung und Unterwerfung ganzer Kulturen sind hier ebenso detailliert beschrieben wie die Versklavung der Völker, die von westlichen Zivilisationen als primitiv betrachtet werden. Trotz des Verbots des Sklavenhandels zeigt Kuang anhand der Protagonistin Victoire auf, wie dieser geschickt umgangen werden kann.

Ein einprägsames Beispiel für die Ausbeutung wird mithilfe des Opiumhandels aufgezeigt. Was im eigenen Land verboten ist, wird in anderen Ländern als Teil des freien und fairen Handels betrieben. Dies wird schließlich zum Wendepunkt der Geschichte. Da sich das chinesische Kanton weigert, den Opiumhandel zu legitimieren, sieht Großbritannien darin einen Grund, dem Land den Krieg zu erklären.

Hier findet sich direkt der nächste wichtige Punkt der Geschichte – der Kapitalismus. Alles ist erlaubt, solange es Geld einbringt und das eigene Land nicht gefährdet. Fairer Handel gilt als die britische Maxime in „Babel“, doch Griffin, der Halbbruder Robins, fragt zu Recht, was fair an einem Handel sein soll, solange eine Nation die Vorherrschaft behält, Zugänge blockiert, Steuern festsetzt und alleinige strafrechtliche Entscheidungen trifft. Und das aufgrund einer Überlegenheit, die auf der vorigen Ausbeute anderer Länder beruht. Dabei erkennt Robin nur zaghaft, dass zerstörerische Maßnahmen deshalb getroffen werden können, wenn das eigene Land mit Ablenkungen bei Laune gehalten wird.

Auch anhand der Student*innen wird dies sichtbar. Sie genießen jeden Luxus, erhalten Stipendien, leben in guten Unterkünften, tragen neue Kleidung. Doch insgeheim wissen sie um die Armut anderer. Dabei müssen sie sich nicht einmal mit der Not der beherrschten Länder auseinandersetzen, denn auch im eigenen Land gibt es genügend Menschen, die in völligem Elend leben. Allerdings werden diese genauso unterdrückt wie die besetzten Nationen.

Spannend und hochaktuell ist in diesem Zusammenhang auch folgender Aspekt: Die Silberbarren sind so beschaffen, dass sie nur für eine begrenzte Zeit funktionieren. Babel lebt davon, dass die Barren regelmäßig instandgesetzt werden müssen. Andernfalls würde die Wirtschaft zusammenbrechen.

Neben des Kolonialismus, des Fremdenhasses und des Kapitalismus fokussiert sich Rebecca F. Kuang schließlich auf den Sexismus. Männer und Frauen werden nicht gleichbehandelt. Letty, die vierte Studentin, die sich durch ihre britische Abstammung von ihren Freund*innen unterscheidet, erfährt dies in jeder erdenklichen Situation. Als Tochter erhält sie nicht die gleichen Chancen wie ihr Bruder. Während ihr Bruder sich der Genusssucht hingibt, muss Letty dabei zusehen, wie ihr jegliche Möglichkeit auf Bildung verweigert wird. Erst mit seinem Tod darf sie anfangen zu leben.

Um die Aufmerksamkeit der männlichen Kommilitonen nicht auf sich zu ziehen, dürfen beide Mädchen keine Kleider tragen. Statt also Jungen dahingehend zu erziehen, dass sie keine Mädchen belästigen dürfen, wird die Verantwortung auf die weibliche Seite abgelegt.

Wollen Mädchen ein Buch ausleihen, benötigen sie hierfür die Unterschrift ihrer männlichen Freunde.

Gleichzeitig stellen Letty und Victoire eine absolute Minderheit in der Studentenschaft von Oxford dar, die von Jungen und Männern dominiert ist.

Könnte man annehmen, dass sich dieser Unterschied mit dem Reisen in andere Länder aufhebt, wird diese Vermutung direkt dementiert. Denn hier sind beide Mädchen gezwungen, sich die Haare abzuschneiden, um als Jungen Kanton zu betreten. Frauen würden schlichtweg gelyncht.

Rebecca F. Kuang hat nicht bloß einen Fantasyroman geschrieben. In ihrem Werk „Babel“ bespricht sie die ganz großen Themen einer vergangenen und gleichzeitig unserer Zeit. Ihr Schreibstil ist gemächlich, detailversessen und zeugt von einem Wissen, welches sich von Seite zu Seite selbst überbordet. Ihre Fußnoten lassen dabei sofort an Hanya Yanagiharas „Das Volk der Bäume“ erinnern. Und tatsächlich gibt es noch eine Parallele zu dem Werk: Immer wieder werden die Leser*innen vor die Frage gestellt, welche Aspekte real und welche fiktiv sind.

Fazit:

Eine atemberaubende Stadt. Eine unterschwellige Bedrohung. Ein aussichtsloser Kampf. Vier Menschen, die zu jung sind, um begreifen zu können, wie grausam Wirtschaft und Politik sein können. Und dazwischen immer wieder eine Frage: Warum an dem Ast sägen, auf dem man saß?

Was bleibt am Ende dieser Lektüre zu sagen? Trotz seiner Länge nur eines: Brillant. Mitreißend. Eindringlich.

  • Autorin: Rebecca F. Kuang
  • Titel: Babel
  • Originaltitel: Babel. Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators´Revolution
  • Verlag: Eichborn/Bastei Lübbe AG
  • Umfang: 732 Seiten
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Erschienen: 28. April 2023
  • ISBN: 978-3-8479-0143-3


Wertung: 13/15 dpt

 


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