Wenn ein Kind Detektiv spielt
East Texas. Stanley Mitchel junior ist inzwischen Ende fünfzig und blickt auf das Jahr 1958 zurück, in dem sich in der Kleinstadt Dewmont merkwürdige Dinge ereigneten. Sein Vater betreibt das Autokino namens Dew Drop, Mutter Gal kümmert sich hauptsächlich um den Haushalt und dann wären da noch die sechzehnjährige Schwester Caldonia, kurz Callie, die schwarze Haushälterin Rosy Mae und der schwarze Filmvorführer Buster Abbott Lighthorse Smith, kurz Buster. Und, ja, natürlich Stan selbst als dreizehnjähriges Kind.
In den Schulferien spielt Stan mit seinem Hund Nub im nahegelegenen Wald, wo er über die Spitze eines Stahlkästchens stolpert. Er ist neugierig, nimmt es mit nach Hause und findet wenige Tage später darin Briefe und Tagebucheinträge, die sich eher langweilig anhören. Liebesbriefe, wie im Callie erklärt, von denen er noch nichts versteht; geschrieben von M an J. Doch die Briefe enthalten auch zweifelhafte, eher unschöne Andeutungen. Erneut einige Tage später spielt Stan erneut mit Nub im Wald und stößt auf ein verfallenes Haus. Als er dies Rosy Mae erzählt, weiß diese zu berichten, dass dieses einst der einflussreichen Familie Stilwinds gehörte. Als das Haus vor zwanzig Jahren niederbrannte befand sich die jüngste Tochter Jewel Ellen in dem Gebäude und verbrannte. In der gleichen Nacht wurde an den entfernt liegenden Bahngleisen die fünfzehnjährige Margaret Wood ermordet, ihr Kopf auf das Gleis gelegt und nie gefunden. Seitdem halten sich Gerüchte, dass der Geist der Toten spukt.
„Find ich nicht richtig“, antwortete ich. „Niemand muss man so behandeln.“
„Tja, ich erzähl dir ja bloß, was er gesagt hat. Mama liest die ganze Zeit in der Bibel, und das ist das Einzige, wofür er sie lobt.
Stans Neugierde ist geweckt, zumal in den Briefen eine Schwangerschaft angedeutet wird. Der ältere Bruder von Jewel Ellen heißt James Ray und könnte demzufolge der mysteriöse J sein, während M womöglich für Margaret steht. Stan vertraut sich Buster an, von dem er erfährt, dass dieser früher einmal ein Polizist war. Als Mischling gehörte er zum stamm der Seminolen, einem der „Fünf zivilisierten Stämme“, in dem er als Lighthorse, also Sheriff, tätig war und über die Einhaltung der Stammesgesetze wachte.
Da sich Buster langweilt, begibt er sich mit Stan auf Spurensuche, während plötzlich scheinbar überall Gewalt lauert. Stans bester Freund Richard hat unter den Gewaltausbrüchen seines bigotten Vaters zu leiden, Rosa Mae unter jenen ihres Mannes Bubba Joe und die hübsche Callie nährt das Interesse junger Männer.
Die Gefahr lauert überall
„Ein feiner dunkler Riss“ von Joe R. Lansdale ist ein ruhig erscheinender Roman, in dem das Grauen jederzeit ausbrechen kann. Bemerkenswert gelungen ist vor allem die Figur des Protagonisten, des damals dreizehnjährigen Stan, der sich über die Welt der erwachsenen zunehmend wundert. So versteht er partout nicht, warum Callie Hausarrest erhält, nur, weil in ihrem Zimmer ein Ballon mit einer Flüssigkeit gefunden wurde. Und weshalb wird deswegen gleich ihr vermeintlicher Freund Chester vom Vater verprügelt? Zarte Aufklärungsversuche seitens Callie, später etwas derber von Buster, führen dazu, dass Stan mehr und mehr die Zusammenhänge in „seinem“ Kriminalfall zu erkennen glaubt. Denn die beiden Todesfälle vor zwei Jahrzehnten wurden nie aufgeklärt. So kann man den Roman als Krimi lesen, sollte jedoch frühzeitig merken, dass es sich um das Genre Coming of Age handelt. Ein bisschen Krimi, ein bisschen Mystik dürfen nicht fehlen, gleichwohl bleibt der kriminelle Spannungsbogen überschaubar mangels in Frage kommender Täter. Dennoch hat sich Lansdale einige gelungene Überraschungen ausgedacht und dank Buster lernt Stan die wichtige Lektion, dass man nicht immer das Offensichtlichste glauben darf. Kein Wunder somit, dass ihm Buster einen Roman mit Sherlock Holmes schenkt. Ansonsten vertieft sich Stan lieber in seine Comic-Superhelden, die ihm bei der Spurensuche aber auch nicht helfen. Mit Richard und Callie begibt er sich auf teils nicht ungefährliche „Ausflüge“, über einen Cousin von Buster erhält er Einblicke in damalige Zeitungen und Polizeiberichte.
Wichtiger als der Kriminalfall ist Lansdale aber der Blick auf die damalige Gesellschaft; heute würde man von „political correctness“ sprechen. So bezeichnet Stans Vater die Haushälterin Rosy Mae zunächst als Niggerin, was ihm gewaltigen Ärger droht, denn da versteht seine Frau Gal nun gar keinen Spaß. Auch Callie und Stan finden die beleidigende Ausdrucksweise abstoßend und so wird aus Stan senior glatt noch eine Art Gutmensch. Bei aller guten und ehrenwerten Absicht darf aber dezent bezweifelt werden, dass die Figur der Gal besonders realistisch ist. Die Story spielt in Ost-Texas, 1958. Damals standen die schwarzen noch hinten im Kino und durften im Laden nur an der Hintertür einkaufen. Folglich spielt das Thema Rassismus ebenfalls eine tragende Rolle, genauso wie religiöser Wahn und die Machtspiele skrupelloser Reicher.
„Die liegen falsch. Wenn du erst mal ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hast, wirst du merken, dass es im Leben genug Zufälle gibt, um dich in den Wahnsinn zu treiben.“
„Hm. Das ist aber irgendwie unbefriedigend.
Ein ruhiger, dennoch packender und spannender Plot mit wichtigen gesellschaftlichen Aussagen. Damals so aktuell wie heute. Nicht von ungefähr gilt Lansdale als einer der bedeutendsten amerikanischen Krimiautoren.
- Autor: Joe R. Lansdale
- Titel: Ein feiner dunkler Riss
- Originaltitel: A Fine Dark Line. Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck
- Verlag: Suhrkamp
- Umfang: 351 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Februar 2014
- ISBN: 978-3-518-46497-7
Wertung: 12/15 dpt