Jochen Rausch – Im toten Winkel (Buch)

Intensives und düsteres Krimi-Highlight

Im toten Winkel
© Piper

Vier Jahre ist es her, da wurde die siebzehnjährige Charlotte das Opfer eines Sexualstraftäters. Die Ehe ihrer Mutter Marta Milutinovic zerbrach daran, nicht zuletzt, weil Ehemann Tom eine neue Liebe fand. Bei einem Einsatz weigerte sich ein Verdächtiger den Anweisungen der Kriminalkommissarin zu folgen, versuchte zu fliehen, es folgte ein Warnschuss. Doch der Warnschuss saß, seitdem sitzt der Italiener Guiseppe di Natale im Rollstuhl. Martas Leben liegt in Scherben, ein Ortswechsel muss dringend her und so zieht es sie aus der Großstadt München in die beschauliche Kleinstadt Schwarzbach im ehemaligen Zonenrandgebiet zwischen Deutschland, der DDR und Tschechien, wo sie die Polizeidienststelle übernehmen soll.

Ist es nicht seltsam, dass sie sich direkt hinter der Grenze niedergelassen haben?
Vielleicht wollten sie sich den Stacheldraht gerne von der richtigen Seite anschauen.

Hier ist der sprichwörtliche Hund begraben, doch der Schein trügt. In einem Internetforum stößt Marta auf den Fall des neunzehnjährigen Jens Fritsche, der Ende November 1998 verschwand und dessen Leiche vier Monate später gefunden wurde. Sie lag unter Schnee, einige Tiere entdeckten sie, die genaue Todesursache konnte nicht geklärt werden. Ein Mord, eine tödlich endende Prügelei, ein Unfall, Selbstmord? Der damalige Ermittler Joachim Wagner vom LKA München befragte rund achtzig Personen, da Jens zuletzt auf einer Schulparty gesehen wurde. Keine Zeugen, keine Spuren, nichts. Und irgendwann: Fall zu den Akten.

Ein ungelöster Fall, auch Cold Case genannt, ist eine Provokation für jeden guten Polizisten, meint Marta. Derweil sorgt der verurteilte Doppelmörder Cislarczyk, der nach knapp dreißig Jahren unter Auflagen und neuem Namen in Schwarzbach lebt, für Unruhe. Jürgen Hartmann, der Dienstälteste Polizist in Schwarzbach, ist womöglich ebenfalls ein Unruheherd, denn er hatte sich wohl schon Hoffnung auf Martas Stelle gemacht.

Es dauert nicht lang, da wird die Lage für Marta gefährlich, aber von wem geht die Gefahr aus? Dem bislang unbekannten Mörder von Jens, so es denn ein Mord war; von Cislarczyk oder gar einem Auftragskiller der italienischen Mafia? Plötzlich ist Schwarzbach alles andere als ein ruhiges Nest und Marta blickt in teils unvorstellbare menschliche Abgründe.

Auftakt zur sogenannten Grenzland-Reihe

Jochen Rausch, womöglich durch sein Buch „Krieg“ oder dessen TV-Verfilmung „Fremder Feind“ bekannt, legt mit „Im toten Winkel“ einen grandiosen Krimi vor, der schon jetzt zu den Highlights des Jahres zählen dürfte. Der Schreibstil ist zunächst gewöhnungsbedürftig, wie aktuell in Mode gekommen fehlen beispielsweise Anführungszeichen bei der wörtlichen Rede, fesselt aber nach kurzer Zeit. Zunächst wird die Protagonistin vorgestellt, deren privates wie berufliches Trümmerfeld, was eindringlich geschieht. Man kann sich in Marta hineinversetzen, mitfühlen, alles wirkt authentisch. Von Schwarzbach kann man dies hingegen nicht behaupten, denn der Ort könnte überall liegen. So viel oder besser gesagt so wenig zum „Grenzland“. Dies mag sich aber in folgenden Fällen noch ändern.

Nach der Wende gab es Gewinner und Verlierer, und Fritsche gehörte zu den Verlierern. Das war die Pointe seines Lebens. Der hatte gedacht, der Westen kauft ihn frei und er verdient sich hier eine goldene Nase, indem er die DDR beschimpft. Und plötzlich gab’s keine DDR mehr.

Zum Plot soll nicht zu viel verraten werden, aber es wird mitunter abenteuerlich. Zunächst ist Schwarzbach ein verschlafenes Kaff, wo jeder jeden kennt und Gewalt und Verbrechen weit weg sind. Wie so oft im Leben trügt der Schein. Mit zunehmender Dauer ergeben sich ungeahnte Abgründe, die schon beim damaligen Opfer Jens beginnen. Denn der angeblich so schüchterne Junge, war wohl tatsächlich den Mädchen durchaus zugeneigt, allerdings in der unerwiderten gewalttätigen Variante. Sein älterer Bruder betreibt einen Gasthof, wo es ebenfalls heiß herging, sexuelle Exzesse mit Minderjährigen inbegriffen. Mit zunehmender Dauer häufen sich die Verbrechen, ein bisschen weniger wäre anlässlich des behaglichen Handlungsortes glaubwürdiger gewesen. Jochen Rausch wählte einen anderen Weg, daher kommt es zu einer veritablen Sterbequote und somit die Actionfans auf ihre Kosten. Im Ergebnis arg übertrieben, aber verbunden mit dem Effekt eines Pageturners, den man spätestens nach dem ersten Drittel nicht mehr aus der Hand legt. Großes Kino.

  • Autor: Jochen Rausch
  • Titel: Im toten Winkel
  • Verlag: Piper
  • Umfang: 304 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: März 2023
  • ISBN: 978-3-492-07164-2
  •  

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Wertung: 12/15 dpt

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