August. Zentralflorida. Ein erschütternder Vorfall ist zu verhandeln. Der erst achtzehn Monate alte Caleb verbrannte im Haus seiner Eltern. Seine Windeln waren mit Farbverdünner durchtränkt, der jedoch nur schwer entflammbar ist. Angeklagt ist seine siebzehnjährige Schwester Anca, die an Autismus leidet. Sie war als Einzige zuhause als das Feuer ausbrach, so die Anklage. Nicht ganz, denn Tim Rush, Freund von Ancas Zwillingsschwester Stephana, wartete in seinem Auto darauf, dass seine Freundin von der Arbeit nach Hause kam. Doch bevor die Beweisaufnahme durch die Anklage sowie anschließend die Beweisführung der Verteidigung stattfinden können, muss erst einmal eine Jury gefunden werden. Handelt es sich nicht um einen besonders schweren Fall, was vorliegend unterstellt wird, reicht eine sechsköpfige Jury, die während des Prozesses für drei Wochen isoliert wird.
In die Jury werden fünf Frauen und ein Mann gewählt sowie ein weiterer Mann als Ersatzkandidat, sollte eine der anderen Personen von dem Prozess ausgeschlossen werden müssen. Unter den Frauen befindet sich die zweiundfünfzigjährige C-2, deren Ehemann bereits stolze 86 Jahre alt und nicht mehr bei bester Gesundheit ist. Einziger Mann in der Jury ist zunächst F-17, ein Anatomieprofessor, zudem sich C-2 prompt hingezogen fühlt. In besagter Isolierung kommen sich beide trotz strenger Bewachung schnell näher, zumal C-2 es in ihrem Alter noch einmal wissen möchte, bevor sie dafür zu alt ist.
„Wenn der Prozess vorbei ist, wird es C-2 nicht mehr geben.
Doch wirkt sich die Affäre womöglich auf das Urteilsvermögen der Beiden und sogar auf die gesamte Jury aus? Nachdem das Urteil verkündet ist, sickern entsprechende Details in die Medien, so dass sich die Frage stellt, ob die Namen der Jurymitglieder veröffentlicht werden dürfen? Es droht eine Hexenjagd, die das Eheleben von C-2 in den Abgrund zu reißen droht.
Erst der Prozess, dann die Nachwirkungen
Wer sich für Gerichtsprozesse im Allgemeinen und in Amerika im Besonderen interessiert, findet hier durchaus spannenden Lesestoff. Zunächst werden die Geschworenen mit Kürzeln wie C-2 und F-17 versehen, damit ihre Anonymität gewahrt bleibt. Detailliert wird zunächst die Auswahl der Jurymitglieder beschrieben, dann das eigentliche Verfahren. Nach rund zwei Dritteln des Romans steht das Urteil fest, welches letztlich einstimmig erfolgt. Für die meisten Leser dürfte das Urteil angesichts der Ausführungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung nur schwer verständlich sein und so wundert es nicht, dass im letzten Drittel nach und nach herauskommt, dass wichtige Informationen den Jurymitgliedern vorenthalten wurden.
Bieten die ersten zwei Drittel einen packenden Justizthriller, so kommt es im letzten Drittel zu einem Stilbruch, denn ab da geht es um die Auswirkungen des Urteils auf die Ehe von C-2, die in Wirklichkeit Hannah heißt. Ihr Mann ist pflegebedürftig und mitunter vergesslich, doch den Prozess hat er schon genau verfolgt, ebenso die Spekulationen in den Medien, wonach es zwischen zwei Personen unter den Jurymitgliedern zu einer intensiven Affäre gekommen sei.
„Anatomie eines Prozesses“ beginnt als packender Justizthriller und stellt ebenso das Begehren einer Frau in den Vordergrund, die mit Anfang Fünfzig noch nicht ins sexuelle Abseits geraten will. Daher kommt es zu einer wilden Affäre, die sich auf den Prozess durchaus auswirkt. Die Grenzen zwischen körperlicher Begierde und moralischer Verantwortung, schließlich geht es um die Zukunft einer jungen Frau, sind fließend. Eine klare Empfehlung, wenngleich der Schlussakkord kleinere Längen aufweist.
- Autorin: Jill Ciment
- Titel: Anatomie eines Prozesses
- Originaltitel: The Body in Question. Aus dem amerikanischen Englisch von Max Stadler
- Verlag: Ars Vivendi
- Umfang: 200 Seiten
- Einband: Hardcover Taschenbuch
- Erschienen: Oktober 2020
- ISBN: 978-3-7472-0192-3
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Wertung: 11/15 dpt