Mit „Die Ersten ihrer Art“ gelingt Heike Specht ein beeindruckender Rückblick auf die letzten Hundert Jahre: Beginnend mit der Weimarer Republik 1918 nimmt sie Frauen unter die Lupe, die als Erste in ihren Ämtern Geschichte geschrieben haben. Es sind mutige Frauen, hauptsächlich aus der Politik, die Erstaunliches leisteten und oft doppelt so hart für ihre Ziele kämpfen mussten wie ihre Kollegen. Der Fokus liegt auf deutscher Politik, Größen wie Margaret Thatcher oder Kamala Harris finden allerdings auch Erwähnung.
„Das, was jahrzehntelang als ‘Frauenpolitik’ verniedlicht wurde, ist in Wahrheit wirkmächtige Gesellschaftspolitik.“ – einer von vielen Sätzen aus dem Vorwort der Autorin Heike Specht, der im Gedächtnis bleibt. Themen, die rein statistisch die Hälfte der Menschheit betreffen, wurden durch die politische Beteiligung von Frauen erst in den Fokus gerückt: Gleichberechtigung der Geschlechter vor dem Gesetz, das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch, finanzielle Emanzipation, Kinderbetreuung – die Liste ist lang. Welche Frauen maßgeblich an Gesetzesentwürfen und deren Verabschiedung mitgewirkt haben, die bis in unser Leben heute reichen, kann in diesem Buch recht spannend nachvollzogen werden.
In ihrem Buch geht Heike Specht, studierte Historikerin und Literaturagentin aus Zürich, chronologisch vor und bemüht sich, durch eine sinnvolle Gliederung den Leser*innen mundgerechte Häppchen zu servieren – ein großes Vorhaben, das bei all den Daten, Zahlen, Fakten zur Welt der Politik nur teilweise gelingt. Die Einteilung der Kapitel ist dabei hilfreich: Ein kleines Intro sowie die Namen der Frauen, die dabei im Fokus stehen, ist jeweils vorangestellt. Ebenfalls gelungen ist der organische Übergang von Kapitel zu Kapitel, sodass eine Weiterentwicklung der Politikgeschichte spürbar miterlebt werden kann. Im zweiten Kapitel „Justitia ist eine Frau“ geht es zum Beispiel ausnahmsweise um Juristinnen (u. a. Ikone Ruth Bader Ginsburg), im achten und letzten Kapitel „Mut statt Demut“ finden wir uns dann mit Annalena Baerbock und Jacinda Ardern, der ehemaligen Premierministerin von Neuseeland, im Heute wieder. Wo eine Kanzlerkandidatin eben noch immer gefragt wird, wie sie das mit ihrer Familie vereinbaren möchte. Oder eine Kanzlerin mit einem femininen Opern-Outfit für hämische Schlagzeilen sorgt.
Ein Frauenporträt in dieser Sammlung mag dabei überraschen: Ulrike Meinhoffs Weg von der Aktivistin zur Staatsfeindin wird ebenfalls beleuchtet. Sie findet ihren Platz im Kapitel „Wider die erstarrte Gesellschaft“.
Viele überlieferte Anekdoten und Originalzitate sorgen dafür, dass das Sachbuch mit seinen 384 Seiten nicht trocken wird. Ein Beispiel: Willy Brandt erzählte wohl gern zum Abschluss von Kabinettssitzungen einen Witz. Wenn ihm dieser nicht für Frauenohren geeignet schien, kam es schon mal vor, dass Käte Strobel, einzige Frau in seinem Kabinett, zu hören bekam: „Käte, hör halt mal weg!“ (S. 91)
Darüber hinaus wird die Lektüre durch 31 Schwarz-Weiß-Abbildungen bereichert: Erstaunliche Aufnahmen wie zum Beispiel ein Gruppenbild der „weiblichen Abgeordneten der Mehrheitssozialisten“, die 1919 als Erste ihrer Art Teil der Weimarer Nationalversammlung waren. Oder eine (vermutlich gestellte) Momentaufnahme, die „Die Mütter des Grundgesetzes“ im Gespräch zeigt: Frieda Nadig, Helene Wessel, Helene Weber und Elisabeth Selbert. Insgesamt Bildmaterial, das nachhaltig beeindruckt und sorgfältig ausgewählt worden ist.
Besonders inspirierend sind die Passagen, in denen gezeigt wird, dass Frauen gemeinsam mehr erreichen können. Als Beispiel führt Specht hier das „Hexenfrühstück“ an – eine regelmäßige Absprache der SPD-Ministerinnen (Abb. links).
Ebenfalls interessant ist, dass viele „Erste ihrer Art“ Rückendeckung von ihren Partnern bekamen, um Karriere und Familie vereinbaren zu können. Um zu zeigen, dass es eben auch anders geht und Rollenklischees nicht in Stein gemeißelt sind. Denn für alles, was heute als selbstverständlich gilt oder gelten sollte, gab es einst eine Frau, die diesen Schritt als erste gewagt hat – ganz ohne Vorbilder zu haben.
Das Buch ist ein Augenöffner für Geschichtsinteressierte, auch wenn es sich für Laien manchmal zu stark in politischen Fachtermini verliert.
- Autorin: Heike Specht
- Titel: Die Ersten ihrer Art. Frauen verändern die Welt.
- Verlag: PIPER
- Erschienen: 24. Februar 2022
- Einband: Hardcover mit Lesebändchen und Schutzumschlag
- Seiten: 384
- ISBN: 978-3-492-07042-3
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 12/15 dpt