Wien. Nach einem Proteststreik der Eisenbahner erfolgt am 4. März 1933 eine Abstimmung, mit der die Regierung Maßnahmen gegen die Streikenden bewirken will. Da diese keine Mehrheit findet, treten alle drei Präsidenten des Nationalrates zurück und lösen damit eine Parlamentskrise aus. Einen Tag später findet eine „Wahl“ zum Deutschen Reichstag statt, mit der die NSDAP die parlamentarische Mehrheit erhält. Derweil hebt die österreichische Regierung unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß die Presse- und Versammlungsfreiheit per Verordnung auf und bezieht sich dabei auf ein Ermächtigungsgesetz aus dem Kriegsjahr 1917. Ein Staatsstreich quasi, wonach Dollfuß fortan diktatorisch regieren kann. Es ist der Anfang vom Ende der Republik, der Anfang vom schicksalhaften Weg in den Faschismus deutscher Prägung mit bekanntem Ausgang.
Die Geschehnisse des Jahres 1933 im Deutschen Reich und in der Republik Österreich werden maßgeblich aus der Sicht von drei Protagonisten betrachtet. Da wäre der bekannte Ministerialrat i. R. und vormalige Oberinspector des k. k. Polizeiagenteninstituts Joseph Maria Nechyba, der seit dreizehn Jahren im Ruhestand weilt und mit nunmehr dreiundsiebzig Jahren einen überschaubaren Tagesablauf verfolgt. Er sitzt wahlweise in seiner Wohnung, wo es gelegentlich zum politischen Streit mit seiner Ehefrau Aurelia kommt, oder im Café Jelinek, wo er die dort ausliegenden Tageszeitungen mit zunehmender Verzweiflung konsumiert und über die aktuellen Auswüchse der politischen Lage sinniert.
Zunehmend düster werden zudem die Gedanken des Engelbert Novak, Kellner im Café Jelinek, der angesichts aufkommender Gewalt gegenüber jüdischen Menschen seine Geliebte Dorli Wiener heiratet, unter anderem in der Hoffnung, dass der Name Novak seine aus einer jüdischen Familie stammende Frau vor Übergriffen schützt. Und dann wäre da noch der achtjährige Erich Loibelsberger, dessen Vater Rudolf (Großonkel des Autors) zu cholerischen Ausfällen neigt und seine Frau lautstark schikaniert, worunter der Junge zunehmend leidet.
Die überschaubaren Handlungsorte befinden sich rund um den Naschmarkt und hier vor allem im Café Jelinek, wo Nechyba täglich einkehrt. Dort werden die Kronen-Zeitung, Reichspost, Neue Freie Presse, vor allem aber die Arbeiter-Zeitung studiert, denn Nechyba hat eine heimliche Vorliebe für die Sozialdemokraten, was ihn mit „Herrn Engelbert“ verbindet.
Achtung! Kein neuer Fall für Oberinspector Nechyba
Leser von Gerhard Loibelsberger erinnern sich gerne an die Nechyba-Reihe, die mit „Die Naschmarkt-Morde“ begann und mit „Schönbrunner Finale“, dem sechsten Band der Serie, endete. Wer nun also auf dem Buchrücken den Namen Nechyba liest, könnte dem folgenschweren Irrtum erliegen, dass dieser erneut in irgendeiner Form ermittelt. Doch noch bevor die Romanhandlung beginnt, gibt es einen kleingedruckten Hinweis, dass es sich nicht um einen Kriminalroman handelt. Womöglich wird sich mancher Leser hierüber nach Erwerb des Buches ärgern, da der Hinweis besser gut sichtbar auf dem Buchrücken platziert gewesen wäre (wobei die dortige Inhaltsbeschreibung wahrlich keinen „Krimi“ erahnen lässt). Es geht, wie eingangs erwähnt, um die politische Lage im Jahr 1933, welche Nechyba und Kellner Engelbert aus den Zeitungen erfahren, die nahezu durchgängig zitiert werden. Nechyba sitzt im Cafè, liest die Zeitung „XY“ und es folgen entsprechende Auszüge respektive Originalzitate. Offenbar war der Autor längere Zeit in einem oder mehreren Archiven aktiv, um die zahlreichen Artikel zusammenzustellen.
Ansonsten bleibt es mehr als übersichtlich, denn Nechyba geht von seiner Wohnung zum Café, zum Naschmarkt und in zwei, drei weitere Geschäfte; danach wird gelegentlich gekocht und dem Tratsch im Hause gefolgt. Hier zeigt sich, dass es nicht nur politisch bergab geht, im Deutschen Reich wie in der Republik Österreich, sondern selbst bei seinen Nachbarn, der Familie Loibelsberger, wo der Familienvater zunehmend ein veritables Alkohol- und Aggressionsproblem hat. So leiden sie letztlich alle, die drei Protagonisten: Nechyba unter der „Lage der Nation“, Novak aus Angst vor der Zukunft seiner jüdisch-stämmigen Frau und Erich, der sich vor der Gewalt seines Vaters fürchtet.
„Ein Bücherwurm.“
„Na, dann kann Ihnen ja die gestrige Bücherverbrennung in Berlin von Herzen wurscht sein.“
„Hörn S‘ auf mit dem Politisieren! Bringen S‘ mir lieber einen doppelten Cognac! Ich muss den grauenhaften Geschmack, der sich in meinem Mund breitgemacht hat, hinunterspülen.
Wen der etwas ungewöhnliche Erzählstil, also das ständige Zitieren von Zeitungsartikeln, nicht stört, wird in „Zerrüttung“ durchaus informativ und fachkundig durch das politische Beben des Jahres 1933 geführt. Morde und Brandanschläge der Hakenkreuzler sorgen dafür, dass Dollfuß mehr und mehr die Republik umwandelt. Gegen Ende des Jahres, am 10. November, wird gar die Todesstrafe eingeführt. Eine lohnende Geschichtsstunde, dieses Mal nicht mit dem üblichen Schwerpunkt im Dritten Reich, sondern mit den Geschehnissen in Österreich. Personennamen und „Wiener Ausdrücke“ werden im Anhang und Fußnoten erläutert, zudem gibt es am Ende noch zahlreiche QR-Codes, die zu weiteren Informationen führen.
Alles in allem ein lesenswerter Roman, nur halt kein Krimi aus der Nechyba-Reihe, an dessen Ende der eine oder andere Mitwirkende gleichwohl im „Holzpyjama“ endet.
- Autor: Gerhard Loibelsberger
- Titel: Zerrüttung
- Verlag: Gmeiner
- Umfang: 252 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Juni 2023
- ISBN: 978-3-8392-0521-1
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Wertung: 12/15 dpt