Ich habe einen fiktionalen Roman erwartet, in dem eine junge Protagonistin ihren Frieden mit ihrer Familie und ihrem südkoreanischen Erbe findet. Stattdessen habe ich die Memoiren einer amerikanischen Frau mit koreanischen Wurzeln bekommen, die den Tod ihrer Mutter verarbeiten musste, während sie auf ihrer eigenen Tournee auftrat.
“Crying in H Mart” ist eine Biographie von Michele Zauner – auch bekannt mit ihrer Rockband Japanese Breakfast. Das Buch erschien 2021 in Amerika und thematisiert Rassismus, Umgang mit dem eigenen kulturellen Erbe, aufwachsen in einer Familie, die ihre eigenen Probleme hat und dem nicht dazu gehören. Ich habe es auf Englisch gelesen.
Michele Zauner beginnt mit einem Besuch im H Mart – einer asiatischen Ladenkette in Amerika – in einer amerikanischen Mall außerhalb der Stadt. Nicht nur kann Michele dort Zutaten für ihre Lieblingsgerichte finden, sondern beobachtet, wie andere asiatisch stämmige Menschen dort einkaufen und in den authentischen Restaurants essen und ein Stückchen Heimat auskosten dürfen. Die Erzählung beginnt erst nach dem Tod ihrer Mutter, um den es in dem Buch geht. Nach Jahren von Streit, Konflikten, Geschrei und Minderwertigkeitsgefühlen hat sich Michelle eine Musikkarriere aufgebaut – weit von ihrer Familie entfernt. Im Buch selbst geht es dann darum, dass ihre Mutter an Krebs erkrankt ist und Michelle sie in ihrem Sterbeprozess begleitet und so auch ihre Mutter beginnt besser zu verstehen. Sofort zieht Michelle wieder zu ihrer Familie, um ihrer Mutter beizustehen und merkt dabei, dass mit ihrer Mutter ein wichtiger Teil stirbt, der Michelle an ihr koreanisches Erbe gebunden hat.
Die Beziehung zwischen Michelle und ihrer Mutter war dabei spannend und hat mich oft an meine Familie erinnert: Ihre Mutter ist eine Perfektionistin – egal ob es sich um ihr Aussehen und Auftreten, das Haus, als Mutter oder ihre Ansprüche an Michelle handelt. Dies hat sie Michelle ständig spüren lassen – sei es wegen Michelles schulischen Leistungen oder ihrer Rebellion, als sie den Druck ihrer Mutter nicht mehr aushält und sich versucht, sich von ihrer Mutter zu befreien.
Erst mit Abstand können sich beide miteinander anfreunden, beide lernen, wie sie sich als Menschen gegenseitig akzeptieren können. Als ihre Mutter dann im Sterben liegt, versucht Michelle trotzdem alles zu sein, was sich ihre Mutter von ihr gewünscht hatte, lernt dann aber, dass ihre Mutter keine Ansprüche mehr an sie stellt und sich nur noch danach sehnt, von anderen Koreanerinnen umgeben zu sein, die verstehen, wie es ihr geht und was sie braucht.
Michelle erzählt, wie es war in der Schule die einzige Asiatin zu sein, während sie in der koreanischen Wochenendschule keinen Zugang zu den anderen Mitschüler*innen finden konnte. Aufgrund ihres weißen, amerikanischen Vaters und ihrem Aufwachsen in Amerika gehörte Michelle nirgendwo wirklich dazu – in weißer, amerikanischer Gesellschaft war sie die Asiatin und in Korea die Amerikanerin. Nie fühlte sie sich zugehörig, was durch ihr schlechtes Koreanisch verschlimmert wurde. Ihr Vater spielte dabei eine Randfigur – er war nicht für Michelle oder die Handlung wichtig, weil er auch nie die fürsorgliche Art von Vater war. Michelle warf ihm dies aber nicht vor, sondern akzeptierte die Beziehung und wusste von seiner drogenabhängigen Vergangenheit.
Im Zentrum stand dabei immer Essen – etwas, das Michelle mit ihrer Familie, aber insbesondere mit ihrer Mutter verband. Essen war etwas, durch das Michelles Mutter Zuneigung zeigte, Urlaube bestimmte und das auch im Sterbeprozess ihrer Mutter Trost spendete. Essen ist aber auch das, was Michelle und ihrer Mutter ein Gefühl von Heimat gab, auch wenn sie Tausende von Kilometern von Südkorea entfernt waren. Deswegen nimmt sich Michelle Zauner auch ausgiebig Zeit den Geschmack und das Kochen von koreanischen Gerichten zu beschreiben, was mich oft hungrig machte. Gerade, weil ich ein paar der Gerichte schon kannte und selbst liebe.
Der Schreibstil war dabei flüssig und stellenweise sogar lyrisch, ohne jemals kitschig zu wirken, was bei dem Thema jederzeit hätte passieren können. Michelle Zauner gab sich Mühe einfach und verständlich ihre Erfahrungen zu teilen, was auch auf sprachlicher Ebene zu einem tollen und flüssig zu lesenden Buch führte.
Beim Lesen habe ich mich aber immer wieder gefragt, ob ich mehr von dem Buch gehabt hätte, wenn ich Michell Zauner als Japanese Breakfast besser kennen würde – ich kannte schon Songs von ihr, aber gerade, wenn sie ihre Musik und das in Erinnerung an ihre Mutter gerichtete Album ansprach, hatte ich das Gefühl, dass Fans, die sie und ihre Musik aktiv verfolgen das Buch noch mehr schätzen würden.
Trotzdem kann ich das Buch allen empfehlen, die den Schmerz nachfühlen können, ein Familienmitglied zu verlieren, selbst nie aufgrund ihrer Herkunft irgendwo dazugehören konnten, selbst durch ihre Familie unter hohem Leistungsdruck standen und nie Zugang zu ihrer Kultur finden konnten.
Michelle Zauner geht gefühlvoll und reflektiert mit ihrer Erfahrung als amerikanische Koreanerin um und mit welchem Stigma das für sie verbunden war. Sie zeigt, dass auch gebrochene Familien Frieden finden können und wie wichtig es ist, sich mit dem eigenen kulturellen Erbe auseinanderzusetzen, um sich selbst und die eigene Familie besser verstehen zu können. Auch macht es einfach Spaß zu lesen, wie sie die leckeren koreanischen Gerichte beschreibt.
- Autor: Michelle Zauner
- Titel: Crying in H Mart
- Verlag: Vintage Verlag
- Erschienen: 2021
- Einband: Paperback
- Seiten 256
- ISBN: 978-0525657743
- Sprache: Englisch
- Sonstige Informationen:
- Produktseite
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 12/15 dpt