Lize Spit – Und es schmilzt (Buch)


Es beginnt mit einem Rätsel. An einem eiskalten Wintertag fährt eine junge Frau in ihr altes Heimatdorf, in dem sie seit Jahren nicht mehr gewesen ist. In ihrem Kofferraum liegt ein langsam schmilzender Eisblock. Warum?

Lize Spit lässt sich fast 500 Seiten Zeit, um dieses Rätsel zu lösen. Der Eisblock schmilzt nur langsam, ebenso wie das Schweigen, in das sich die Protagonistin Eva geflüchtet hat. Sie hat eine Einladung zu einer Gedenkfeier erhalten, die in ihrem alten Heimatdorf stattfindet. In gefühlter Echtzeit begleitet man sie auf dem Weg zu ihrem Ziel. Die Reise wird zum Rückblick auf Ereignisse, die sie lange verdrängt hatte. Und je mehr das Eis schmilzt, desto deutlicher tritt die erschütternde Wahrheit ans Licht …

Anfangs wirkt der Roman noch wie eine etwas bizarre Coming-of-age-Story. Eva ist ein unglücklicher Teenager in äußerst prekären Umständen: Die Eltern sind vom Leben völlig überforderte Alkoholiker. Der Vater zeigt Eva in der Garage die Schlinge, die er für seinen Suizid vorbereitet hat, den er jedoch nie ausführt, „weil er in seinem Leben sowieso nicht etwas zu Ende bringt.“ Es wird viel herumgeschrien, ab und an setzt es Schläge und Geld ist auch kaum da. Eva, der ältere Bruder Jolan und die kleinere Schwester Tesje erdulden die lieblose Vernachlässigung ohne einen Ausweg zu sehen. Besonders Tesje, die Jüngste, leidet enorm unter der Situation und entwickelt bedrohliche Zwangsstörungen. Diese Ausgangssituation macht Eva in der Schule unter ihren Gleichaltrigen zur erklärten Außenseiterin. Die Freundschaft zu Laurens und Pim ist Evas einziges Mittel gegen die Einsamkeit.

Die Beziehung zu den beiden Jungs ist jedoch sehr speziell. Laurens und Pim haben sich zum Ziel gesetzt durch eine List, alle Mädchen ihres Dorfes einmal nackt zu sehen. Dafür haben sie einen perfiden Plan ausgeheckt: Man verspricht für die Lösung eines Rätsels eine ordentliche Summe Geld. Um auf die Lösung zu kommen, darf das jeweils eingeladene Mädchen Fragen stellen, bezahlt aber für jede Frage mit einem Kleidungsstück. Eva wird zur Komplizin. Sie ist diejenige, die sich das Rätsel ausgedacht hat und als einzige die Lösung kennt. Ein Rätsel, das in jedem Fall zu schwer ist, um wirklich gelöst zu werden. Die Jungs profitieren von Evas Ideenreichtum und ihrer weiblichen Anwesenheit, die den Mädchen, die sich auf das Spiel einlassen, suggeriert, die unangenehme Situation, sei in Wahrheit völlig harmlos. Obwohl Eva dieses Spiel immer weniger mag, bleibt sie dabei, um nicht allein zu sein.

Mit erbarmungsloser Konsequenz treibt Spit die Handlung voran. Schon früh festigt sich die Gewissheit, dass das Alles kein gutes Ende geben wird. Immer zahlreicher werden die verstörenden Elemente, die Evas Alltag kennzeichnen. Immer extremer werden die Ausschläge im Verhalten der Freunde. Die fatale Zuspitzung erscheint am Ende fast unausweichlich. Es ist eine Katastrophe mit Ansage, die Spit inszeniert. Dabei erspart sie uns nichts. Mit einer Schonungslosigkeit, die sprachlos macht, schildert sie Evas traumatisches Erlebnis. Doch nicht weniger sprachlos macht einen die Reaktion der anderen, der Erwachsenen, in Evas Umgebung. Das Mädchen ist völlig sich selbst überlassen. Die seelischen Verletzungen sind verheerend. Alle Versuche sich mitzuteilen bleiben vergeblich. Es gelingt Eva nicht, die Grenze des Unaussprechlichen ohne Hilfe zu überwinden. Eva reagiert mit Verdrängung.

Dabei mangelt es nicht an Zeugen. Die geschilderten Ereignisse spielen sich nicht in der Anonymität einer Großstadt ab, sondern in einem kleinen Dorf. Jeder weiß Bescheid, wie es um Evas Familie steht. Auch als Eva zum Opfer wird, sind die Hinweise nicht zu übersehen. Doch niemand von den verantwortlichen Erwachsenen wird aktiv.

Bis zum Ende bleibt die Stimme der Ich-Erzählerin allein. Die Konsequenz mit der Spit auch diesen Teil der Handlung über den äußersten Punkt hinaus treibt, hinterlässt beim Lesen eine Fassungslosigkeit, die auch nach der Lektüre lange nachklingt.

Spit will uns erschüttern und es gelingt ihr auf ganzer Linie. Es gibt nur wenige Bücher, die einen derart sprachlos zurücklassen und gerade deshalb zu einem besonders lauten Appell gegen das Schweigen werden.

Man mag kaum eine Lese-Empfehlung für diesen intensiven Debütroman aussprechen, ohne an die zahlreichen Trigger-Warnungen zu denken, die er zu Recht auslöst, und zugleich kann man gar nicht anders als genau das zu tun.


Wertung: 13/15 dpt


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