Christian Meyer – Flecken (Buch)


Ein Debütroman, bei dem einem das Lachen oft im Halse stecken bleibt: Christian Meyers Buch erzählt vom Erwachsenwerden, der Konfrontation mit dem Tod und pfeift auf Klischees. Dieser überraschend ernsthafte Exkurs des Bühnenkomikers bleibt hoffentlich nicht der letzte.

Buchcover-Flecken-von-Christian-Meyer
Cover © Voland & Quist

Erik ist Anfang Dreißig und kommt nach langer Abwesenheit zurück in den kleinen Ort, in dem er aufgewachsen ist. Zurück in die „Heimat“, falls es so etwas überhaupt gibt. Für Erik ist das alles andere als leicht und zusätzlich ist auch der Anlass ein trauriger: die Beerdigung seiner ehemals besten Freundin Neele. Inzwischen arbeitet Erik in einer Werbeagentur in Wien und kreiert sexistische Werbespots, die er selbst fragwürdig findet.
Bereits in der Anfangsszene – Neeles Beerdigung – wird schnell klar: Erik ist anders als die anderen:

Erik versucht, etwas zu fühlen, aber da ist nichts. Das ist kein gutes Zeichen. In der Regel fühlt er sich wohl, wenn er nichts fühlt, und das gelingt ihm oft. Und wenn er fühlt, dann schafft er es in den meisten Fällen abzuwägen, ob das Gefühl seine Berechtigung hat oder nicht.'Flecken', S. 9

Stattdessen fällt ihm mit einem „Hoppla“ die Schippe auf den Sarg, er simuliert eine Heulattacke und verhält sich schlicht unpassend. Ist das ein Protagonist, den man in einem Roman begleiten möchte? Es scheint, als lege Meyer beim Erschaffen seiner Hauptfigur keinen großen Wert auf Sympathie der Leser*innen, was die Lektüre von Anfang an überraschend und anders macht.

Freundschaft oder Beziehung?

Aber was war eigentlich los zwischen Neele und Erik? Waren die beiden Freunde oder mehr? Und was ist mit Neele passiert? Das sind Fragen, mit deren Beantwortung sich Meyer beim Erzählen der Handlung Zeit lässt. Der Fokus liegt dabei klar auf Erik und seinen Erinnerungen an die Zeit mit Neele und ihrer gemeinsamen Vergangenheit sowie den aktuellen Geschehnissen nach Eriks Rückkehr. Dabei kommen einige Wahrheiten zutage, denen Erik lieber nicht ins Gesicht geblickt hätte. Ein wichtiges Thema des Romans ist das gesellschaftliche Label „Beziehung“ – für Neele bedeutet das Freundschaft, Liebe, Sex. Erik hat jedoch keinerlei erotisches Interesse, was ihm nicht nur bei Neele so geht. Schwul ist er aber auch nicht. Was also ist mit ihm los? Zumindest Neele scheint Eriks Wunsch nach platonischer Liebe nicht verstehen zu können und droht daran zu zerbrechen. Dass Erik dafür keine Schuld trifft, dass er anders ist und mittlerweile einfach akzeptiert, wie er empfindet, macht die Dinge für Neele nicht leichter …

Christian Meyer bringt das aktuell oft besprochene Thema Asexualität durch seinen Protagonisten Erik aufs Tapet und schafft es, auf literarische Art und Weise dafür zu sensibilisieren: Eriks Sichtweise auf die Liebe ist authentisch und immer ein Stück weit nachvollziehbar.

Schauplatz der Handlung

Der „Flecken“ bezeichnet den Provinzort, in dem die Handlung spielt. Wer auf einem Dorf seine Schulzeit und Jugend verbracht hat, wird hier auf jeden Fall Parallelen erkennen und beim Lesen lachen müssen: das Tuscheln und die Gerüchteküche, die an Bushaltestellen herumlungernde und trinkende Jugend, die zugewiesenen Rollen, die mit entsprechenden Rollenbildern verknüpft sind. Und einfach der Fakt, dass je*r jede*n kennt – was angenehm sein kann, aber nicht muss.

Herausragend sind die Nebenfiguren des Romans, die von Meyer originell gestaltet worden sind und von denen man sofort einige ins Herz schließt – vielleicht weil sie so viel greifbarer sind als Erik? Hier gibt es zum Beispiel Bruno, Eriks besten Freund, der mit Computerspielen ein Vermögen gemacht hat, aber weiterhin im Flecken wohnt. Oder Neeles und Eriks Familie: Sie teilen viele gemeinsame Erlebnisse, die zunächst nur angedeutet werden und deren Tragweite sich erst nach und nach entspinnt.

Zum Autor

Autorenfoto: Christian Meyer © Enrico Meyer

Christian Meyer ist Jahrgang 1982 und verbrachte lange Zeit in Leipzig. Dort ist er vor allem durch Auftritte mit Julius Fischer als Band „The Fuck Hornisschen Orchestra“ bekannt, mit dem er ebenfalls in der gemeinsamen Fernsehshow „Comedy mit Karsten“ über mehrere Staffeln im MDR zu sehen war. Inzwischen agiert Meyer eher hinter der Bühne, zum Beispiel als künstlerischer Leiter des Hamburger „Centralkomittee“ (Comedy, Kabarett & Musik), unter der Geschäftsführung von Michel Abdollahi. Nach Julius Fischers Romanen „Ich hasse Menschen“, Teil 1 und 2, folgt jetzt mit „Flecken“ Christian Meyers Debütroman, der überraschend ernste Töne anschlägt. Denn auch wenn es komische Szenen gibt, bleibt das Lachen eher im Halse stecken. Nach den Büchern von Fischer und André Herrmann („Klassenkampf“) – die in Leipzig und darüber hinaus als Comedygrößen bekannt sind – mag das überraschen. Allerdings kann Meyer als Autor ernster Themen ebenso überzeugen, wie er auf der Bühne zum Lachen bringt. Schnell wird klar, dass er sich in der Literaturgeschichte auskennt (Germanistik-Studium): Hier und da fließen gekonnt Zitate ein und besonders die Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff bekommt einen Sonderplatz im Herzen des Protagonisten Erik.

Das Buch ist eine Empfehlung für alle, die mal wieder eine frische Stimme lesen möchten, die von Themen aus dem Hier und Jetzt erzählt.


Wertung: 12/15 dpt

 


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