Anne Perry – Der Würger von der Cater Street (Buch)


Moralinsaure Ständedünkel im Viktorianischen Zeitalter

Der Würger von der Cater Street
© DuMont

London. 1881. Im Haus der Familie Ellison geht es streng gesittet zu, so dass der autoritäre Vater vor allem darüber wacht, was dem schwachen Geschlecht zugemutet werden kann. Daher erfahren Charlotte und ihre Schwestern zufällig aus einer ausliegenden Zeitung, dass eine junge Frau in der nahegelegenen Cater Street erwürgt wurde. Wochen später wird eine weitere Leiche gefunden und wiederum einige Zeit später erwischt es das Hausmädchen der Ellisons. Inspector Pitt übernimmt die Ermittlungen, kommt jedoch lange Zeit nicht voran, zumal es in besseren Kreisen höchst unschicklich ist mit der Polizei zu sprechen. Was sollen die Nachbarn denken? Aufgrund seiner ungepflegten Erscheinung wird Pitt schnell als „entsetzlicher Polizist“ herabgewürdigt, eine Einstellung, die sich in Charlottes Fall grundlegend ändern soll.

Der Romantitel legt einen Vergleich zu Jack the Ripper nahe, doch wer dieses annimmt wird eine Enttäuschung erleben.

Auftakt der Thomas-und-Charlotte-Pitt-Reihe

„Der Würger von Cater Street“ ist der erste Band der Thomas-und-Charlotte-Pitt-Reihe, die aus insgesamt 32 Romanen besteht. Autorin Anne Perry (geboren 1938), einst als Jugendliche selber an einem Mord beteiligt und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, verstarb am 10. April 2023. Mit ihrer Krimireihe um Inspector Pitt erschuf sie sich eine große Fangemeinde, ihre Gesamtauflage liegt bei über 25 Millionen verkaufter Bücher. Etliche Krimikritiker waren ihr zeitlebens nicht ganz so wohlgesonnen.

Im vorliegenden Roman ist Charlotte Ellison, spätere Charlotte Pitt, die Protagonistin, deren Familie im Mittelpunkt des Geschehens steht. Da wäre der sittenstrenge wie autoritäre Vater Edward, die noch strengere Großmutter, Edwards Frau Caroline sowie die Schwestern Sarah und Emily und nicht zuletzt Dominic, Sarahs Ehemann, in den Charlotte selber verliebt ist. Und da fängt das erste Problem gleich an. Es wird sehr kleinteilig über das Familienleben berichtet, welches recht wenig Abwechslung bietet und strengen gesellschaftlichen Konventionen unterliegt. Frauen gelten im Viktorianischen Zeitalter als schwaches Geschlecht, haben sich um Kind und Haushalt zu kümmern, während die Männer für den Unterhalt sorgen. Sie lesen die Zeitung und berichten nur erbauliche Themen, so dass die Damen des Hauses eher zufällig erfahren, dass ein Mörder in unmittelbarer Nachbarschaft sein Unwesen treibt. Selbstredend müssen die Opfer, junge Frauen, der Sünde verfallen sein; undenkbar, dass eine anständige Frau aus gutem Haus wie der Ellisons dem Würger zum Opfer fiele.

Doch die moralinsaure Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit hält nicht lange, denn selbstredend gelten für die Herren der Schöpfung andere Spielregeln. Frauen haben treu zu sein, Männer dürfen, nein müssen geradezu ihren Trieben nachkommen, was Carolina und Sarah schmerzhaft erfahren werden. Hierin liegt wiederum eine der Stärken des Romans, denn Anne Perry versteht es großartig in die damalige Zeit einzuführen. Die bigotten gesellschaftlichen Regeln, das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie zwischen den einzelnen Ständen, wird sehr umfassend dargestellt. Es ist ein wahrer Graus! So ist auch das spätere Werben von Pitt um Charlotte recht behutsam und langwierig angelegt, denn als Polizist gehört Pitt selbstredend einem niedrigeren Stand an.

Bei aller Detailverliebtheit über die Zustände im Hause der Familie Ellison und der Einblicke in die damalige Zeit, beispielsweise über die katastrophalen sozialen Verhältnisse in den untersten Schichten, geht zu Beginn des Romans der Krimiplot weitgehend verloren. Bezeichnenderweise erfährt man von den ersten beiden Morden nur als Zeitungsnotiz am Rande und der „entsetzliche“ Inspektor Pitt betritt erst nach gut sechzig Seiten die Bühne, wo er weiterhin lange Zeit im Hintergrund wirkt; von gelegentlichen Besuchen bei der Familie abgesehen. In der zweiten Romanhälfte nimmt der Krimiplot langsam Fahrt auf, wenngleich das Tableau verdächtiger Figuren mit gerade einmal fünf Männern überschaubar bleibt. Das Finale folgt ebenso plötzlich wie womöglich überraschend und hinterlässt einen faden Beigeschmack.

Einblicke in die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts

Wer Interesse am 19. Jahrhundert und am Viktorianischen Zeitalter hat, wird hier auf seine Kosten kommen, zumal Charlotte sehr widerspenstig ist und somit eine sehr fortschrittliche, für die damalige Epoche völlig untypische Frauenfigur gibt, die allzu gern verbal die Finger in die offenen (Moral-)wunden legt.

Informative Einblicke in die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts mit Schwerpunkt auf die gesellschaftlich katastrophale Lage der Frauen, vor allem aus der Arbeiterschicht, bietet das äußerst empfehlenswerte Buch der britischen Historikerin Hallie Rubenhold „The Five – Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden“.


Wertung: 8/15 dpt


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