Um ihrer Einsamkeit zu entgehen, ist Leda einer Studentinnenverbindung beigetreten, die sie seit dem Tod ihrer Mutter als Familienersatz betrachtet. Am Halloweenabend besucht sie daher mit ihren Verbindungsschwestern Partys, die sich von nackter Haut, lauter Musik und Alkohol nähren. Zwei Tage später wird ihr bewusst, dass sie keine Erinnerung mehr an den Abend hat. Während sich der Campus mit zahlreichen Aktionen für ein Mädchen einsetzt, welches seit Halloween als vermisst gilt, tun sich Leda immer größere Rätsel auf. Woher kommt die Verletzung an ihrer Lippe? Wieso kannte die Vermisste sie? Und warum fühlt sie sich beklommen, sobald Ian auftaucht?
Mit ihrem Debütroman Flüchtige Freunde gelingt es Anna Caritj, ihre Leser*innen gekonnt in die Irre zu führen. Immer wieder streut die Autorin Indizien ein, die mal diesen, mal jenen Verdacht aufkommen lassen. Ein kaputtes Kleid. Ein Auto mit maskiertem Fahrer. Postkarten mit ominösen Botschaften.
Vordergründig handelt die Geschichte vom Verschwinden eines jungen Mädchens namens Charlotte. Charlotte galt als offen, freundlich und zu lieb, um Gefahren erkennen zu können. Nachdem die junge Studentin als vermisst gemeldet wurde, nehmen die Aktionen zugunsten ihres Findens eine Dynamik an, die den eigentlichen Fall fast ins Lächerliche ziehen. Sei es grelle Schreiaktionen in engen Shirts, um Mädchen zu beweisen, dass sie eine Stimme haben, oder Gebetsbasteleien, die in Gläsern gesammelt werden. Das öffentliche Entsetzen spiegelt sich dabei in einer Art purem Aktionismus wider, der hauptsächlich von Mitstudent*innen initiiert wird, um sich selbst ins Rampenlicht zu stellen. Beispielhaft ist hier die Studentin und Verbindungsschwester Carly, die eine Gruppe von Mädchen dominiert und keinerlei Individualismus akzeptiert.
In diesen Kontext betrachten die Leser*innen die Studentin Leda. Leda wirkt in ihrer Nachdenklichkeit einsam und distanziert. Doch steht dies in totalem Kontrast zu ihrem Verhalten innerhalb des Verbindungshauses. Nur zu schnell gewinnt man den Eindruck, dass Leda Mitläuferin ist, um Anschluss in eine Familie zu finden, die keine ist. So geht sie ebenso leichtbekleidet auf Partys wie ihre Freundinnen. Begleitet ihre Schwestern zum Yoga, obwohl sie kein Yoga mag. Und unterstützt Aktionen, von denen sie nicht überzeugt ist. Genau aus diesem Grund fällt es so schwer, Leda einzuschätzen. Sie einer Kategorie zuzuordnen. Doch je weiter die Lektüre voranschreitet, umso mehr wird deutlich, worum es geht.
Denn: Was sich zunächst wie ein Thriller liest, entwickelt sich erst nach und nach zu einem Entwicklungsroman, der sich ernsten Themen widmet. Bleibt die Protagonistin anfangs noch seltsam gesichtslos, liegt das daran, dass sie selbst nicht mehr weiß, wer sie ist. Aufgrund eines Ereignisses in ihrer Vergangenheit wirkt sie wie ziellos umherirrend. Immer auf der Suche nach Anhaltspunkten, wer sie sein könnte, wo sie hingehört, hervorragend dargestellt durch die wiederkehrenden Joggingrunden, die sie unternimmt und die gleichzeitig wie eine Flucht, aber auch wie ein Treten auf der Stelle wirken, kommt sie doch immer wieder an denselben Eckpunkten vorbei.
Erst der Halloweenabend sorgt für ein Implodieren ihres Inneren. Denn Leda wacht zwei Tage später auf. Ihre Lippe ist aufgeplatzt, ihre Füße sind verschmutzt und ihre Erinnerungen ausgelöscht. Sie ahnt mehr, dass sie Sex gehabt hat, als dass sie es weiß. Ihr Kleid ist zerrissen und das Kondom aus ihrem Stiefel verschwunden.
An dieser Stelle findet sich also ein erster Hinweis auf das zweite Hauptthema des Romans: Wo hört einvernehmlicher Sex auf? Und wo beginnt Vergewaltigung? Diese Frage drängt sich vor allem dann auf, als sie einem Jungen mit Sonnenbrille begegnet, mit dem sie ein zweifelhaftes Erlebnis teilt.
Flüchtige Freunde ist keine rasende Lektüre, die ihre Leser*innen atemlos zurücklässt. Sie bewegt sich langsam und manchmal sogar zäh zwischen den Ereignissen eines Studentinnenlebens hindurch. Sie gibt Einblicke in die Gefühle einer jungen Frau, die ahnt, dass etwas Schreckliches mit ihr passiert ist und glaubt, das eben jenes auch einer Kommilitonin zugestoßen ist. Sie handelt davon, welche Folgen Missbrauch hat, der kaum öffentlich als solcher deklariert wird und sich wabernd auf der Grenze zwischen Legalem und Verbrechen bewegt. Sie zeigt auf, mit welchen Verletzungen Frauen zurückgelassen werden, die Dinge erleben, welche sie sich nicht zu kommunizieren wagen.
Fazit: Anna Caritj hat mit ihrem Debüt ein Thema angesprochen, welches so aktuell wie dringend ist. Und bleibt dabei ohne jegliche Verurteilung. Doch wer sich diesem Roman nähert, sollte sich vor allem auf eines einstellen: eine intensive Lektüre!
- Autorin: Anna Caritj
- Titel: Flüchtige Freunde
- Verlag: Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH
- Erschienen: Mai 2023
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Seiten: 384
- ISBN: 978-3-8270-1458-0
Wertung: 14/15 dpt